Rechtsvorbeifahren erlaubt, Rechtsüberholen verbot...
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Strafrecht

Rechtsvorbeifahren erlaubt, Rechtsüberholen verboten

A. wird vorgeworfen, am 5. Juli 2019 einen Personenwagen auf der Überholspur der Autobahn gelenkt zu haben. Rund 1'000 Meter vor einer Autoausfahrt habe er den rechten Richtungsblinker gestellt und sei auf die Normalspur gewechselt. In der Folge habe er mit einer Geschwindigkeit von 100 bis 120 km/h vier Fahrzeuge rechts überholt. Anschliessend habe er den linken Richtungsblinker gestellt und sei wieder auf die Überholspur gewechselt. In diesem Zusammenhang wurde er der groben Verletzung von Verkehrsregeln gemäss Art. 90 Abs. 2 SVG schuldig gesprochen. Sowohl die gegen das erstinstanzliche Urteil erhobene Berufung ans Kantonsgericht als auch die gegen das zweitinstanzliche Urteil erhobene Beschwerde in Strafsachen ans Bundesgericht wurden abgewiesen (vgl. Sachverhalt/A. des BGer 6B_231/2022 vom 1. Juni 2022).

Gemäss Art. 35 Abs. 1 SVG[1] ist rechts zu kreuzen, links zu überholen. Beim Fahren in parallelen Kolonnen sowie innerorts auf Strassen mit mehreren Fahrstreifen in der gleichen Richtung ist das Rechtsvorbeifahren an anderen Fahrzeugen gestattet, sofern diese nicht halten, um Fussgängern oder Benützern von fahrzeugähnlichen Geräten den Vortritt zu lassen. Das Rechtsüberholen durch Ausschwenken und Wiedereinbiegen ist jedoch untersagt (Art. 8 Abs. 3 VRV[2]). Gemäss Art. 36 Abs. 5 VRV ist das Rechtsüberholen durch Ausschwenken und Wiedereinbiegen untersagt. Jedoch sind gewisse Fälle vorbehalten, in denen der Fahrzeugführer mit der gebotenen Vorsicht rechts an anderen Fahrzeugen vorbeifahren darf, beispielsweise auf Autobahnen bei Kolonnenverkehr auf dem linken oder mittleren Fahrstreifen (lit. a). Diese Regelung kann einen etwas missverständlichen Eindruck hinterlassen.

Der Beschwerdeführer A. rügte in seiner Beschwerde in Strafsachen, sein Manöver sei nach den revidierten Verkehrsregeln, die per 1. Januar 2021 gelten, nicht mehr strafbar.

Dem widersprach das Bundesgericht. Das Bundesgericht erwägt in E. 2.2 f. m.w.H., dass es weiterhin möglich sei, das Rechtsüberholen als grobe Verletzung der Verkehrsregeln gemäss Art. 90 Abs. 2 SVG zu werten. Das ergebe sich bereits aus Art. 4 Abs. 3 lit. a OBG[3]. Art. 4 Abs. 3 lit. a OBG besagt, dass Widerhandlungen gegen die Strassenverkehrsgesetzgebung nicht im Ordnungsbussenverfahren geahndet werden, wenn die beschuldigte Person anlässlich der Widerhandlung jemanden gefährdet oder verletzt oder Schaden verursacht hat. Eine erhöhte abstrakte Gefährdung genügt. So habe dann auch das ASTRA in seinen Erläuterungen zur Änderung der Verkehrsregeln und Signalisationsvorschriften vom 10. Dezember 2019 betont, dass mit der Einführung des Ordnungsbussentatbestandes zum Ausdruck gebracht werden solle, dass nicht alle Fälle von Rechtsüberholen als grobe Verletzung der Verkehrsregeln im Sinne von Art. 90 Abs. 2 SVG zu qualifizieren sind. Zwar sei die Möglichkeit geschaffen worden, das Rechtsüberholen mit einer Ordnungsbusse zu ahnden (Ziff. 314.3 Anhang 1 OBV[4]). Doch sei weiterhin eine Verurteilung wegen grober Verletzung der Verkehrsregeln im Sinne von Art. 90 Abs. 2 SVG auszusprechen, wenn die Voraussetzungen dafür erfüllt sind.

Das Bundesgericht äussert sich hinsichtlich der Zulässigkeit des Rechtsvorbeifahrens bzw. des Rechtsüberholens auf Autobahnen sodann in E. 3.1 m.w.H. wie folgt: Gestattet sei es, rechts an anderen Fahrzeugen unter Wechsel des Fahrstreifens vorbeizufahren (sog. Vorfahren), wenn dies ohne Behinderung des übrigen Verkehrs möglich ist. Das Rechtsüberholen durch Ausschwenken und Wiedereinbiegen sei hingegen gemäss Art. 8 Abs. 3 Satz 2 VRV ausdrücklich untersagt. Beim Fahren in parallelen Kolonnen auf Autobahnen dürfe deshalb in keinem Fall durch Ausschwenken und Wiedereinbiegen rechts überholt werden. Dies sei namentlich der Fall, wenn ein Fahrzeuglenker die Lücken in den parallelen Kolonnen ausnütze, um auf der rechten Fahrbahn zu überholen. Nach der Rechtsprechung setze paralleler Kolonnenverkehr dichten Verkehr auf beiden Fahrspuren, somit ein längeres Nebeneinanderfahren von mehrere sich in gleicher Richtung bewegenden Fahrzeugreihen voraus. Kolonnenverkehr sei anhand der konkreten Verkehrssituation zu bestimmen und zu bejahen, wenn es auf der (linken und/oder mittlere) Überholspur zu einer derartigen Verkehrsverdichtung komme, dass die auf der Überhol- und der Normalspur gefahrenen Geschwindigkeiten annähernd gleich sind. Im Ergebnis lässt sich festhalten, dass es weiterhin nicht gestattet ist, rechts auszuschwenken, um ein oder mehrere Fahrzeuge zu überholen und dann wieder links einzuspuren. Das ist somit trotz Änderung der gesetzlichen Grundlagen per 1. Januar 2021 weiterhin unzulässig.

Bemerkenswert ist im Übrigen, dass das Bundesgericht explizit Erwägungen zu einer in diesem Zusammenhang stehenden Publikation des Rechtsvertreters des Beschwerdeführers trifft (E. 3.3.2).

Fussnoten

  1. Strassenverkehrsgesetz vom 19. Dezember 1958 (SVG, SR 741.01).

  2. Verkehrsregelverordnung vom 13. November 1962 (VRV, SR 741.11).

  3. Ordnungsbussengesetz vom 18. März 2016 (OBG, SR 314.1).

  4. Ordnungsbussenverordnung vom 16. Januar 2019 (OBV, SR 314.11).

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