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Öffentliches Recht

Die zukünftige Rückerstattung von rechtmässig bezogenen Ergänzungsleistungen (EL)

Gemäss dem neuen ELG, welches auf den 1. Januar 2021 in Kraft treten wird, müssen rechtmässig bezogene Ergänzungsleistungen nach dem Tod der Bezügerin oder des Bezügers von den Erben aus dem Nachlass zurückerstattet werden, sofern sich der Wert des gesamten Nachlasses auf mehr als CHF 40 000.– beläuft. Damit kommt es zu einem problematischen Systemwechsel in der Vorsorge, welcher falsche Anreize schafft.

Das Drei-Säulen-Prinzip

Das schweizerische Vorsorgesystem basiert bekanntlich auf drei Säulen. Dies sind:

  • Die erste Säule, bestehend aus der AHV und der IV. Diese dient der Existenzsicherung für die gesamte Bevölkerung, namentlich im Alter.[1]
  • Die zweite Säule, nämlich die berufliche Vorsorge (BVG), die als Versicherung für Arbeitnehmende ab einem bestimmten Mindesteinkommen ausgestaltet ist. Sie bezweckt die Fortsetzung der gewohnten Lebenshaltung.[2]
  • Die dritte Säule, welche als individuelle Selbstvorsorge ausgestaltet ist. Sie dient denjenigen, welche über den Schutz der ersten beiden Säulen hinaus ihre Vorsorge ausbauen wollen, und bietet Möglichkeiten, die Ausgaben für diese Vorsorge von den Steuern in Abzug zu bringen.[3]

Dieses in der Bundesverfassung[4] verankerte Drei-Säulen-Prinzip ist an sich gut etabliert und überzeugt grundsätzlich. Problematisch ist allerdings, dass selbst die Maximalrenten der ersten Säule nicht ausreichend sind, damit jemand seine Existenz angemessen absichern kann. Diese maximale AHV-Rente beträgt nämlich gerade mal CHF 2370.– pro Monat und kann erst erzielt werden, wenn jemand ab dem 21. Lebensjahr bis zum ordentlichen Rentenalter lückenlos Beiträge einbezahlte und jährlich ein massgebendes Durchschnittseinkommen von rund CHF 85 000.– verdiente.[5] Es ist selbstredend, dass eine angemessene Existenzsicherung damit kaum möglich ist. Die minimale AHV-Rente beträgt lediglich CHF 1185.–; dass die Existenzsicherung damit vollkommen illusorisch wird, muss nicht weiter ausgeführt werden.

Die Ergänzungsleistungen (EL)

Die Personen, welche eine AHV- und eine BVG-Rente erhalten, bemerken diesen Mangel im System nicht direkt, da sie durch die Kombination dieser beiden Renten in der Regel ihre Existenz angemessen absichern können.[6] Problematisch ist die Situation indes für diejenigen, die lediglich eine AHV-Rente beziehen. Aus diesem Grund hat der Gesetzgeber bereits vor über 50 Jahren die Ergänzungsleistungen (EL) geschaffen, welche ursprünglich als Übergangslösung konzipiert waren. Da indes die Leistungen der ersten Säule seit über 40 Jahren nicht mehr substanziell erhöht wurden, sind die Ergänzungsleistungen nunmehr als zusätzliches Sozialversicherungssystem etabliert und verfügen sogar über eine eigenständige Verfassungsgrundlage.[7] Anspruch auf Ergänzungsleistungen haben gemäss dem Bundesgesetz über die Ergänzungsleistungen (ELG) demnach Personen, deren Renten nicht ausreichen, um die minimalen Lebenskosten zu tragen; die EL dienen mithin der unmittelbaren Deckung des Existenzbedarfs.[8]

Die Pflicht zur Rückerstattung von EL: Analyse und Kritik

Mit Änderung vom 22. März 2019 wurde vom Parlament das ELG einer Reform[9] unterzogen, welche auf den 1. Januar 2021 in Kraft treten wird und teilweise weitreichende Auswirkungen mit sich bringt. Gemeint ist insbesondere die neue Bestimmung von Art. 16a ELG, wonach rechtmässig bezogene Ergänzungsleistungen nach dem Tod der Bezügerin oder des Bezügers aus dem Nachlass zurückzuerstatten sind, wenn sich der Wert des gesamten Nachlasses auf mehr als CHF 40 000.– beläuft. Gemäss dieser Bestimmung sollen also bei Versicherten, die EL bezogen haben, die entsprechenden Mittel nach ihrem Tod von den Erben zurückgefordert werden können. Ausserdem werden gemäss dem neuen Art. 9a ELG Personen, welche über ein Reinvermögen von mehr als CHF 100 000.– verfügen, zukünftig keinen Anspruch mehr auf Ergänzungsleistungen haben. Bei Ehepaaren wird diese Vermögensschwelle auf CHF 200 000.– festgesetzt. Immerhin gelten selbstbewohnte Liegenschaften nicht als Vermögensbestandteil, damit diese Personen nicht aus selbstbewohnten Liegenschaften ausziehen müssen.

Mit der Reform des ELG kommt es in der schweizerischen Vorsorge zu einem Systemwechsel.[10] Bislang wurden die EL gemäss der Systematik der Bundesverfassung als ergänzende Versicherungsleistungen verstanden, worauf die Betroffenen einen Anspruch haben.[11] Neu geht das Parlament offenbar davon aus, dass es sich um einen Anspruch der sozialen Fürsorge handelt, sprich als eine Art von Sozialhilfe, welche nur subsidiär ausgerichtet werden soll.[12] Die Ergänzungsleistungen wandeln sich somit gewissermassen zu einem «staatlichen Vorschuss auf die künftige Erbmasse».[13]

Die neue Regelung wird auch deshalb kritisiert, weil sie nunmehr völlig falsche Anreize setzt. Es wird auch Versicherten mit mittlerem bis höherem Einkommen der Anreiz, Vermögen anzusparen, genommen. So fährt derjenige, der seine Hypothek nicht abbezahlt oder auch sonst kein nennenswertes Privatvermögen bildet, in der Tendenz «besser» als der pflichtbewusste Sparer. Dessen Vermögen wird durch den Bezug von Ergänzungsleistungen derart belastet, dass das Erbe seiner Nachkommen geschmälert wird, falls denn überhaupt noch etwas zum Vererben vorhanden sein sollte. Die Mittel, welche eben nicht für die Abzahlung der Hypothek oder fürs individuelle Sparen verwendet werden, stehen dann zusätzlich für die Lebensführung zur Verfügung. Ein in Bezug auf die EL relevanter Vermögensverzicht ist damit aber nicht verbunden, solange den Ausgaben jeweils eine gleichwertige wirtschaftliche Gegenleistung gegenübersteht.[14] Die neue EL-Regelung setzt damit den Anreiz, die individuelle Selbstvorsorge zu beschränken und Vermögen gar nicht erst anzusparen, was wohl allerdings kaum die Absicht des Gesetzgebers gewesen sein dürfte.[15] Neu gilt somit, dass Personen, die über Vermögen verfügen, entweder keinen Anspruch auf Ergänzungsleistungen haben, oder aber, sollte nach dem Tod noch Vermögen vorhanden sein, sie EL zu einem wesentlichen Teil aus dem Nachlass «selbst» berappen müssen.[16] Ebenfalls problematisch ist der Umstand, dass bezüglich dieser Rückforderung dann nicht mehr zwischen den selbst bewohnten Immobilien und dem restlichen Vermögen unterschieden wird. Somit «haften» die selbst bewohnten Liegenschaften ebenfalls für die Rückerstattung der EL gemäss Art. 16a ELG, weil sie aufgrund der Rückerstattungspflicht gegenüber dem Staat von den Erben aus der Erbmasse «herausgekauft» werden müssten, was sich viele Erben allerdings wohl nicht werden leisten können.[17]

Fazit

Die Ergänzungsleistungen sollen den Bezügern von AHV- und IV-Renten den Existenzbedarf decken. Es handelt sich bei den EL um Versicherungsleistungen, worauf ein verfassungsmässiger Anspruch besteht. Mit der Revision des ELG wird nun eine Regelung eingeführt, wonach rechtmässig bezogene Ergänzungsleistungen nach dem Tod der Bezügerin oder des Bezügers von den Erben aus dem Nachlass zurückerstattet werden müssen, sofern sich der Wert des gesamten Nachlasses auf mehr als CHF 40 000.– beläuft (siehe Art. 16a ELG). Damit werden die EL zu «rückzahlungspflichtigen Vorschüssen auf das Erbe» und das Ziel, den angemessenen Existenzbedarf mit den Versicherungsleistungen zu decken, dürfte neu faktisch in vielen Fällen verfehlt werden.[18]

Fussnoten

  1. Art. 112 Abs. 2 lit. b BV.

  2. Art. 113 Abs. 2 lit. a BV.

  3. Art. 111 Abs. 4 BV.

  4. Siehe Art. 111 ff. BV.

  5. Vgl. das Merkblatt 3.01 betreffend Altersrenten und Hilflosenentschädigung der AHV, abrufbar unter: https://www.ahv-iv.ch/p/3.01.d.

  6. Thomas Gächter, Altersfürsorge statt Altersvorsorge, recht 2020, 53.

  7. Art. 112a BV; siehe dazu Thomas Gächter, (zit. in Fn. 6), 53; Thomas Gächter/ Martina Filippo, in: Bernhard Waldmann/Eva Maria Belser/Astrid Epiney (Hrsg.), Basler Kommentar Bundesverfassung, N. 4 zu Art. 112a BV.

  8. BBl 2019, 2603 ff.

  9. Vgl. auch Thomas Gächter, Wozu noch Erbrecht?, Pflegerecht 2019, 74, wonach diese neue Regelung das gesamte bisherige Ergänzungsleistungssystem auf den Kopf stellt und droht, dessen Charakter grundlegend zu verändern.

  10. Thomas Gächter/Martina Filippo, (zit. in Fn. 7), N. 8 zu Art. 112a BV.

  11. Thomas Gächter, (zit. in Fn. 6), 53; Rückerstattungspflichten gibt es bislang einzig im Bereich der Sozialhilfe, siehe z.B. Art. 40 ff. SHG Kanton Bern.

  12. Thomas Gächter, (zit. in Fn. 10), 74.

  13. Dazu eingehend: Markus Zimmermann, Vermögensverzicht und Ergänzungsleistungen: Was ist zu beachten?

  14. Thomas Gächter, (zit. in Fn. 10), 76.

  15. Thomas Gächter, (zit. in Fn. 10), 75.

  16. Thomas Gächter, a.a.O.

  17. Thomas Gächter, a.a.O.

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