Verwandtenunterstützungspflicht – ein alter Zopf,...
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Privatrecht

Verwandtenunterstützungspflicht – ein alter Zopf, aber quicklebendig

Wer in günstigen Verhältnissen lebt, ist verpflichtet, Verwandte in auf- und absteigender Linie zu unterstützen, die ohne diesen Beistand in Not geraten würden. So lautet Art. 328 Abs. 1 ZGB. Hand aufs Herz: Sind Ihnen die damit verbundenen Risiken bekannt?

Das ZGB von 1907 hatte die Verwandtenunterstützungspflicht bereits vorgesehen. Aufgrund der damaligen Funktion familiärer Bande als wirtschaftliche und soziale Keimzelle erscheint denn auch die Verpflichtung zu Beistand in der Not als folgerichtig. Im Zeitalter grenzenloser Selbstverwirklichung kann man sich dagegen schon fragen, ob es noch zeitgemäss sei, vermögende Verwandte im Falle gescheiterter Persönlichkeitsentfaltung zu finanziellen Beiträgen an den so in Not Geratenen zu verpflichten. Die Bestimmungen zur Verwandtenunterstützung wurden zwischenzeitlich zwar revidiert, jedoch nicht abgeschafft. Nachdem sich das Bundesgericht über Jahrzehnte hinweg nur spärlich mit Fragen der Verwandtenunterstützung zu befassen hatte, wurden dem höchsten Gericht in jüngster Zeit verschiedene Fragen zum Entscheid unterbreitet. Das Gericht hat in diesem Zusammenhang wegleitende Urteile gesprochen und damit seine Verantwortung als oberste Instanz der Rechtspflege wahrgenommen. Aus dem Reigen jüngster höchstrichterlicher Rechtsprechung werden nachstehend drei Urteile herausgegriffen und deren Konsequenzen dargestellt.

Die günstigen Verhältnisse des Unterstützungspflichtigen
(Urteil vom 21. November 2007)

Unterstützungspflichtig wird nur, wer in günstigen Verhältnissen lebt. Im genannten Entscheid hat sich das Bundesgericht zu verschiedenen Aspekten geäussert, wann von günstigen Verhältnissen auszugehen ist.

Im Sinne einer formelhaften Definition gilt als wohlhabend, wer über die finanziellen Mittel verfügt, die es ihm erlauben, über die notwendigen Auslagen (wie Mietzins, Hypothekarzins und Nebenkosten, Krankenkassenprämien, Steuern, notwendige Berufsauslagen, Vorsorge- und evtl. Pflegefallkosten) und die Bildung eines angemessenen Sparkapitals hinaus auch diejenigen Ausgaben tätigen zu können, die weder notwendig noch nützlich zu sein brauchen, bei der Führung eines gehobenen Lebensstils jedoch anfallen (Reisen, Ferien, Kultur, Gastronomie etc.). Unmassgeblich bleibt dabei, ob sich finanziell gut gestellte Personen auch tatsächlich einen aufwendigen Lebensstil gönnen oder ob sie sich mit einer bescheidenen Lebenshaltung begnügen.

Das Bundesgericht hat hier insbesondere klargestellt, dass der Sicherstellung der wirtschaftlichen Sicherheit des Pflichtigen im Alter (unter anderem auch mit Blick auf eine allfällige Pflegebedürftigkeit) Vorrang vor der Unterstützung von in Not geratenen Verwandten zukommt. Dabei wurde festgehalten, die Altersvorsorge höre nicht mit dem Erreichen des AHV-Alters auf. Im konkreten Fall wurde einer 79-jährigen Witwe gleichermassen Anspruch auf Altersvorsorge zugebilligt wie einer Person im Erwerbsleben. Im Hinblick auf die Vorsorge für eine allfällige Pflegebedürftigkeit erachtete das Bundesgericht Rückstellungen von monatlich zwischen Fr. 10 000.– und Fr. 20 000.– als angemessen. Diese Ausführungen beziehen sich auf ein Verwandtschaftsverhältnis zweiten Grades (Grosseltern/Enkel). In einem umgekehrten Fall eines unterstützungspflichtigen Sohnes hat das Bundesgericht demgegenüber ausgeführt, von überdurchschnittlich guten finanziellen Verhältnissen dürfe erst bei einem Monatseinkommen von deutlich über Fr. 10 000.– ausgegangen werden. Diese Aussage wurde hier bestätigt.

Spezialitäten bei Immobilienbesitz
(Urteil vom 22. Dezember 2005)

Massgebend ist nicht nur das Einkommen, sondern namentlich auch das Vermögen des Unterstützungspflichtigen. Dabei wird nach gängiger Praxis dem Pflichtigen ein Anteil seines Vermögens im Sinne eines hypothetischen Vermögensverzehrs als Einkommen aufgerechnet. Dieser Praxis hat das Bundesgericht im Zusammenhang mit Vermögenswerten mit Vorsorgefunktion nun gewisse Grenzen gesetzt.

Dient eine Liegenschaft dem Unterstützungspflichtigen mit ihrem Ertrag als einzige Einkommensquelle, ist mit der Aufrechnung eines hypothetischen Vermögensverzehrs als Einkommen Zurückhaltung geboten. In diesem Zusammenhang hat das Bundesgericht angedeutet, dass der weiteren Aufnahme von Hypothekarkrediten Grenzen gesetzt sind. Die Zumutbarkeit einer Zunahme der Belastung ist im Einzelfall abzuklären. Sodann werden Rückstellungen für die Kosten von grösseren Erneuerungs- oder Wiederherstellungsarbeiten als abzugsfähig anerkannt. Dabei ist auch dem Umstand Rechnung zu tragen, dass solche Kosten nicht ohne zeitliche Verzögerung auf Mieter überwälzt werden können. Des Weiteren hat das Bundesgericht bei derartigen Verhältnissen eine Beurteilung auf längere Sicht verlangt. An der vormaligen Rechtsprechung, wonach Unterstützungsleistungen nur dann ausgeschlossen sein sollten, wenn deren Bezahlung das Auskommen des Pflichtigen schon in naher Zukunft gefährde, wurde nicht festgehalten. In solchen Fällen sind also konkrete Berechnungen vorzunehmen und fallbezogene Überlegungen anzustellen. Endlich wurde auch der Einwand zurückgewiesen, die Zulassung solcher Berechnungen führe zu einer Ungleichbehandlung im Vergleich zu Unterhaltspflichtigen, deren Vermögen nicht einseitig aus Immobilien bestehe.

Richtigerweise wird künftig auf die konkreten Verhältnisse des Einzelfalls abzustellen und namentlich der Vorsorgefunktion von Vermögensbestandteilen Rechnung zu tragen sein. Als Vorsorgefunktion wird aber nicht nur der Nutzen einer Liegenschaft in Form eines Finanzertrages, sondern ebenfalls in Form von selbstbewohntem Grundeigentum anerkannt werden müssen. Im Weiteren ist es m. E. angezeigt, auch mobiles Vermögen mit entsprechender Vorsorgefunktion (z. B. rückkaufsfähige Lebensversicherungspolicen) den gleichen Grundsätzen zu unterstellen. Neue Präzedenzfälle dürften also folgen.

Spezialitäten zur Notlage
(Urteil vom 6. Juni 2007)

In einer Notlage befindet sich, wer sich das zum Lebensunterhalt Notwendige nicht aus eigener Kraft verschaffen kann. Der Unterstützungsanspruch geht in der Regel auf die Verschaffung von Nahrung, Kleidung, Wohnung sowie ärztlicher Betreuung und Heilmitteln bei Krankheit. Darüber hinaus geht der Anspruch aber auch auf Beschaffung der Mittel, welche zur Deckung der Kosten eines Aufenthalts und der Behandlung Suchtabhängiger in einer Anstalt nötig sind. Ebenso wurden Eltern bereits zur Tragung von Kosten des Massnahmenvollzugs an straffälligen Nachkommen verurteilt.

Bei Suchtkranken liegt eine Notlage unter anderem dann vor, wenn kein dem Behandlungsbedürfnis des Suchtkranken entsprechendes und anerkanntes Angebot an Behandlungsanstalten besteht, dessen Kosten vom obligatorischen Krankenversicherer getragen werden. Ebenso dürfte sie zu bejahen sein, wenn zwar eine solche Einrichtung besteht, die entsprechenden Kosten aber vom obligatorischen Krankenversicherer nicht voll übernommen werden (Selbstbehalt). Anderseits kann dann nicht von einer Notlage gesprochen werden, wenn ein von der Krankenversicherung anerkanntes und zweckmässiges Behandlungsangebot besteht, die suchtkranke Person jedoch ein anderes Behandlungsangebot auswählt, dessen Kosten nicht vom obligatorischen Krankenversicherer getragen werden. Erstaunlicherweise haben kantonale Instanzen hier eine abweichende Auffassung vertreten.

In erfrischender Weise nimmt das höchste Gericht in diesem Umfeld die Aufgabe der Rechtsfortbildung an die Hand und definiert Schranken der im Gesetz recht offen umschriebenen Verwandtenunterstützungspflicht. Es darf deshalb für einmal festgehalten werden, dass die Lotterie Romande durchaus ihre Daseinsberechtigung hat.

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