Die Verantwortlichkeit und die Haftung der Konzern...
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Handels- und Gesellschaftsrecht

Die Verantwortlichkeit und die Haftung der Konzernmutter

Im Zusammenhang mit dem Rückbau eines Öltanks durch die X. AG gelangt eine grössere Menge Öl in den Boden und das Grundwasser. Da die X. AG, bevor sie den Schaden bezahlt, in Konkurs geht, stellt sich die Frage, wer allenfalls noch für den Schaden in Anspruch genommen werden kann. Bekannt ist, dass die Y. AG zu 98% Eigentümerin der X. AG ist.

Was ist ein Konzern nach schweizerischem Recht?


Konzerne wurden sowohl in der Schweiz als auch im Ausland sozusagen in der Praxis geschaffen, sodass sie primär ein «wirtschaftliches Phänomen» darstellen. Das Konzernrecht enthält keine allgemeingültige  Legaldefinition für Konzerne. Zudem ergibt sich aus dem schweizerischen Konzernrecht kein einheitlicher Konzernbegriff. Je nach dem infrage stehenden Rechtsgebiet können sich die Grundverständnisse zum Bestehen (oder Nichtbestehen) eines Konzerns erheblich unterscheiden. So hielt auch das Bundesgericht fest: «Die Schweiz kennt kein systematisch kodifiziertes Konzernrecht; der Konzern wird von der Rechtsordnung nur  punktuell erfasst und geregelt». Im Prinzip kennzeichnet sich der Konzern jedoch durch die effektiv durchgesetzte Unterordnung von mehreren juristisch selbstständigen Kapitalgesellschaften (Untergesellschaften [Tochtergesellschaften]) unter eine leitende Kapitalgesellschaft (Obergesellschaft [Konzernmutter]) zum Zweck der Bildung einer unternehmerisch tätigen wirtschaftlichen Einheit.

Wie ist die Konzernhaftung im schweizerischen Recht geregelt?

Nirgends im schweizerischen Recht gibt es einen Gesetzesartikel, der die für den Konzern kennzeichnenden Haftungsfragen zum Gegenstand hätte. Tatsächlich lassen sich in der Praxis jedoch aus den für die Einzelgesellschaften geltenden Prinzipien für den Konzern konzipierte Regeln ableiten. Betreffend die Konzernhaftung kennt die juristische Meinungsvielfalt kaum Grenzen. Allen gemeinsam ist jedoch, dass sich die Frage der Konzernhaftung in aller Regel als Folge einer Insolvenz in der «unteren» Schicht einer Unternehmensgruppe stellt.

Folglich konzentrieren sich die nachfolgenden Ausführungen auf die Aussenbeziehung, das heisst auf die Haftung der Konzernmutter gegenüber Dritten, die Forderungen gegenüber Tochtergesellschaften geltend machen. Fallbezogen auf die Haftung der Y. AG gegenüber Dritten, die Forderungen gegenüber der X. AG geltend machen.

Wann haftet in der Schweiz die Y. AG für Verpflichtungen der X.AG?

Im Sinne der gesetzlichen Vorschriften des Obligationenrechts haftet die Y. AG als Aktionärin  der X. AG grundsätzlich nicht für deren Verbindlichkeiten. Dennoch sind verschiedene Gründe denkbar, die zur Haftung der Y. AG als Konzernmutter für Verpflichtungen der X. AG als Tochtergesellschaft führen können:

Vertragliche Haftung

Eine Konzernmutter kann für den Ausfall einer Tochtergesellschaft und/oder für einen von dieser verursachten Schaden haftbar gemacht werden, wenn sie sich dazu vertraglich verpflichtet hat. Zu denken ist dabei vor allem an einen Garantievertrag oder einen Bürgschaftsvertrag. Bei einem Solidarhaftungsvertrag verpflichten sich mehrere Schuldner, vorliegend sowohl die Konzernmutter als auch die  Tochtergesellschaft, vertraglich gegenüber einem Gläubiger je einzeln für die Erfüllung der ganzen Schuld zu haften. Beim Garantievertrag verpflichtet sich der Garant – innerhalb eines Konzerns ist das üblicherweise die Konzernmutter –, Schadenersatz zu leisten, falls die Leistung eines Dritten – folglich einer Tochtergesellschaft – ausbleibt. Beim Bürgschaftsvertrag handelt es sich um einen einseitig verpflichtenden Vertrag, bei dem sich der Bürge (Konzernmutter) gegenüber dem Gläubiger des Hauptschuldners (Tochtergesellschaft) verpflichtet, für dessen Schuld einzustehen. Eine spezielle Bedeutung haben Patronatserklärungen von Konzernmüttern. Patronatserklärungen dienen wie Solidarhaftungs-, Bürgschafts- und Garantievertrag häufig als Kreditsicherungsmittel, mit dem sich die Konzernmutter dem Kreditgeber der Tochtergesellschaft gegenüber verpflichtet, Vorkehrungen zu treffen, die die Rückzahlung eines Kredites fördern.

Haftung aus Konzernvertrauen

Eine Konzernmutter kann haftbar gemacht werden, wenn sie durch ihr Verhalten das Vertrauen eines Gläubigers in eine Konzernverantwortung erweckt hat, dieses jedoch später in treuwidriger Weise enttäuscht. In diesem Fall haftet sie dem Gläubiger für seinen Schaden, der ihm infolge der, gestützt auf das erweckte Vertrauen, getätigten Dispositionen entstanden ist. Die Haftung aus Konzernvertrauen der Konzernmutter greift lediglich, wenn eine deliktische Haftung und/oder vertragliche Haftung der Konzernmutter ausgeschlossen ist. Die Vertrauenshaftung entsteht zulasten einer Konzernmutter nur dann, wenn die vier nachfolgenden Kernelemente alle erfüllt sind: Es liegt eine im Vertrauen in ein bestimmtes künftiges Verhalten begründende Erklärung der Konzernmutter vor, und diese Erklärung spielt sich in einer Sonderbeziehung zwischen Erklärer und Erklärungsempfänger ab; das erregte Vertrauen ist schützenswert; die Erklärung der Konzernmutter veranlasst den Erklärungsempfänger zu einem spezifischen Tun oder Unterlassen, das sich später als schädlich herausstellt; die Konzernmutter verletzt das in sie berechtigterweise gesetzte Vertrauen des  Erklärungsempfängers in Missachtung einer Sorgfaltspflicht.

Haftung als faktisches Organ

Eine Konzernmutter kann haftbar gemacht werden, soweit sie Aufgaben wahrnimmt bzw. Entscheidungen trifft, die den eigentlichen Geschäftsführungsorganen der Tochtergesellschaft vorbehalten sind, und sie dadurch als faktisches Organ der Tochtergesellschaft agiert. Im Sinne eines faktischen Organs handeln Personen, «die tatsächlichen Organen vorbehaltene Entscheide treffen oder die eigentliche Geschäftsführung besorgen und so die Willensbildung der Gesellschaft massgebend mitbestimmen». In Bezug auf Konzerne konkretisierte das Bundesgericht jedoch, dass «eine blosse Einflussnahme von Organen einer Muttergesellschaft auf diejenigen der Tochtergesellschaft regelmässig keine Organverantwortung gegenüber der Tochtergesellschaft begründet», es sei denn, es bilden sich «übertragene oder usurpierte» Zuständigkeiten. Agiert die Konzernmutter als faktisches Organ der Tochtergesellschaft im Sinne der hiervor beschriebenen bundesgerichtlichen Rechtsprechung, trifft sie als juristische Person dieselbe aktienrechtliche Verantwortlichkeit, wie wenn sie dem Verwaltungsrat der Tochtergesellschaft angehören würde. Wird die faktische Organstellung der Konzernmutter bejaht, muss zudem ein Schaden vorliegen, der als Folge einer Pflichtverletzung (Pflichtwidrigkeit) entstanden ist und dem Gesellschaftsorgan der Konzernmutter zuzurechnen (Verschulden) ist.

Durchgriff

Wie dargelegt besteht ein Konzern aus mehreren juristisch selbstständigen Kapitalgesellschaften (Tochtergesellschaften), zusammengefasst unter einer leitenden Kapitalgesellschaft (Konzernmutter). Die juristische Selbstständigkeit der Konzernmutter ist daher grundsätzlich zu beachten, selbst wenn der Schaffung getrennter Einheiten das Motiv der Haftungsbegrenzung zugrunde liegt. Diese juristische Selbstständigkeit der Tochtergesellschaften ist auch dann zu beachten, wenn es der Konzernmutter zum Vorteil gegenüber Dritten gereichen würde, die separate körperschaftliche Existenz einer Tochtergesellschaft im betreffenden Einzelfall ausser Acht zu lassen. Nur ausnahmsweise, wenn die Berufung der Konzernmutter auf die juristische Eigenständigkeit der Tochtergesellschaft als rechtsmissbräuchlich scheint, erfolgt ein sog. «Durchgriff». Dabei handelt es sich nicht um eine Haftung im klassischen Sinne, jedoch führt er zu einem haftungsähnlichen Ergebnis, nämlich, dass die Konzernmutter als herrschendes Unternehmen für die Schulden der Tochtergesellschaft als beherrschtes Unternehmen direkt einzustehen hat. Als Folge wird die Konzernmutter gegenüber den Gläubigern bzw. Minderheitsaktionären der Tochtergesellschaft direkt haftbar.  Vorausgesetzt wird, dass die Gläubiger einer Tochtergesellschaft zu Schaden gekommen sind, die betreffende Tochtergesellschaft von der Konzernmutter als Haupt- oder Alleinaktionärin beherrscht wird und ein rechtsmissbräuchliches Verhalten vorliegt. Vor allem in den nachfolgend genannten drei Fällen erscheint der echte konzernrechtliche Durchgriff als denkbar: Unterkapitalisierung, Vermögensvermischung sowie die Instrumentalisierung zur Umgehung von Normen. Damit die Unterkapitalisierung der Tochtergesellschaft den Durchgriff auf die Konzernmutter begründet, wird vorausgesetzt, dass die Konzernmutter in rechtsmissbräuchlicher Weise die Tochtergesellschaft des wirtschaftlich notwendigen Eigenkapitals entblösst und auch ein richterlich verordneter Rangrücktritt der Konzernmutter hinsichtlich ihrer funktional Eigenkapital darstellenden Darlehen an die Tochtergesellschaft nicht ausreicht, um Schaden von den Gläubigern der Tochtergesellschaft abzuwenden. Eine rechtsmissbräuchliche Vermögensvermischung liegt vor, wenn das Geschäftsgehabe der Konzernmutter faktisch dazu führt, dass die Aktiven und Passiven von ihr und der Tochtergesellschaft derart vermischt werden, dass es der Konzernmutter nicht mehr zusteht, sich auf die Haftungsabschottung zu berufen. Ein Durchgriff ist zudem denkbar, wenn die Konzernmutter die Tochtergesellschaft derart zu instrumentalisieren versucht, dass in missbräuchlicher Weise bestimmte gesetzliche Vorschriften umgangen werden können.

Zwischenfazit

betreffend die Schadenersatzpflicht der Y. AG Vorliegend ist mehr als fraglich, ob überhaupt einer der zuvor erörterten Konzernhaftungstatbestände erfüllt ist.  Um dies abschliessend beurteilen zu können, wäre es erforderlich, dass die konzerninterne Struktur und die Funktion der Y. AG im Verhältnis zur X. AG detailliert unter die Lupe genommen würde. Nicht ausser Acht zu lassen wären zudem allfällige Versicherungsleistungen des Versicherers der konkursiten X. AG. In diesem Zusammenhang wäre denkbar, dass eine analog dem «loi de vigilance» nach französischem Recht konzipierte Konzernhaftung Abhilfe schaffen würde. Zurzeit befindet sich in der Schweiz der indirekte Gegenvorschlag zur Volksinitiative «Für verantwortungsvolle Unternehmen zum Schutz von Mensch und Umwelt» vom 10. Oktober 2016 in der Umsetzung. Am 5. August 2021 endete die Referendumsfrist.

Internationale Bestrebungen – «loi de vigilance» nach französischem Recht?

In Umsetzung der UNO-Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte und der OECD-Leitsätze für multinationale Unternehmen haben verschiedene Länder verbindliche menschenrechts- und umweltbezogene Sorgfaltspflichten eingeführt, beispielsweise Frankreich mit dem sog. «loi de vigilance» im Februar 2017, aber auch Belgien, Deutschland, die Niederlande und Grossbritannien. Im Jahr 2017 wurde in Frankreich das sog. «loi de vigilance» in Kraft gesetzt. Gemäss dem «loi de  vigilance» werden französische Unternehmen mit mehr als 5000 Arbeitnehmern in Frankreich bzw. 10 000 Arbeitnehmern weltweit dazu verpflichtet, einen sog. «plan de vigilance» zu erstellen, umzusetzen und zu veröffentlichen. Dieser Plan soll dazu dienen, die Risiken schwerer Verletzungen von Menschenrechten, Gesundheit und Sicherheit von Personen und Umweltzerstörungen innerhalb einer Lieferkette zu identifizieren. Dabei bezieht sich der Plan neben den Aktivitäten des Unternehmens selbst auch auf das Handeln von Zweigniederlassungen, Subunternehmern und Lieferanten («activités des sous-traitants ou fournisseurs»). Inhalt dieses Plans ist eine Risikoanalyse und -bewertung der jeweiligen Lieferkette. Ein Verstoss gegen die vorbeschriebene Planungspflicht kann eine zivilrechtliche Haftung der betroffenen Obergesellschaft und ihrer Untergesellschaften nach sich ziehen. Haftungsvoraussetzung ist insbesondere, dass es einen Zusammenhang zwischen dem Fehlen des Plans und dem daraus entstandenen Schaden gibt. Da ein solcher Zusammenhang jedoch nicht einfach nachzuweisen ist, sind die Hürden für eine erfolgreiche Klage im vorgenannten Sinne relativ hoch. Erst im Januar 2020 wurde die erste Klage aufgrund des «loi de vigilance» von mehr als einem Dutzend französischen Städten und Umweltorganisationen eingereicht. Die Kläger werfen dabei dem Mineralölkonzern Total vor, dass sein Umweltplan nicht geeignet sei, die Klimaziele des Pariser Klimaabkommens 2015 zu erreichen, und fordern deshalb, dass Total zu verpflichten sei, effektive Massnahmen zum Schutz vor Umweltzerstörungen zu ergreifen. Der Ausgang des Verfahrens ist zurzeit noch offen, jedoch hat im Februar 2021 das angerufene Gericht seine Zuständigkeit für die Klage bestätigt, nachdem diese durch Total bestritten wurde.

Vorgehen (Checkliste) bei Vertragsabschluss bzw. bei Schadenfall

  • Steht ein Vertragsabschluss mit einer juristischen Person bevor, so ist es von hoher Wichtigkeit, vor Vertragsabschluss die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit (Bonität, Betreibungsregisterauszug, falls möglich Geschäftsberichte der Vorjahre) des potenziellen Vertragspartners und dessen Unterschriftenregelung zu überprüfen sowie sich über dessen konzernrechtliche Struktur zu informieren. In diesem Zusammenhang ist es zudem empfehlenswert, Referenzen einzuholen.
  • Während der Leistungserbringung ist ständig zu prüfen, ob die vertraglichen Bestimmungen eingehalten werden und ob Anzeichen für eine Verschlechterung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit des Vertragspartners bestehen. Bei Verschlechterung, insbesondere wenn sich ein Konkurs abzeichnet, ist zu prüfen, ob vom Vertragspartner die Abtretung von Rechten gegenüber dessen Subunternehmern zu erwirken sind.
  • Im Schadensfall, insbesondere im Konkursfall, ist es bedeutend, sofort eine juristische Auslegung zu machen, juristische Vorkehren zu treffen und frühzeitig Fachkompetenz beizuziehen. So gilt es, so rasch wie möglich und sorgfältig vorzugehen. Es wäre vorliegend zentral gewesen, gegen die X. AG vorzugehen, bevor diese in Konkurs fiel.
  • Wenn möglich sollte im Schadensfall von allen hinsichtlich der Durchsetzung von Forderungen möglicherweise relevanten juristischen Personen  Verjährungseinredeverzichtserklärungen eingeholt werden. Ist das schweizerische Recht massgebend, so gilt seit dem 1. Januar 2020, dass ein Verjährungseinredeverzicht erst ab Beginn der Verjährung möglich ist, und zwar für längstens zehn Jahre. Sodann hat der Verjährungseinredeverzicht zwingend in schriftlicher Form zu erfolgen im Sinne von Art. 13 OR, d.h., eine Verjährungseinredeverzichtserklärung per E-Mail ohne elektronische Signatur ist ungültig. Vorliegend sollten somit zumindest rechtzeitig Verjährungseinredeverzichtserklärungen von der X. AG und der Y. AG eingeholt werden.
  • Sind keine Verjährungsverzichtserklärungen erhältlich, gilt es, die Verjährung rechtzeitig zu unterbrechen. Dies ist in Anwendung von Art. 135 Ziff. 2 OR durch Schuldbetreibung, Schlichtungsgesuch oder Klage sowie durch Eingabe im Konkurs möglich. In diesem Zusammenhang ist es notwendig, dass im Rahmen einer juristischen Beratung die Prozessrisiken sorgfältig abgeschätzt werden.
  • Betreffend die Tochtergesellschaft (X. AG) wird in einem ersten Schritt grundsätzlich empfohlen, unabhängig davon ob eine Verjährungseinredeverzichtserklärung erhältlich ist oder nicht, Forderungen innert Monatsfrist nach öffentlicher Bekanntmachung des Konkurses durch das zuständige Konkursamt diesem einzugeben.
  • Betreffend die Konzernmutter (Y. AG) empfiehlt es sich grundsätzlich, in einem ersten Schritt gegen die hiervor genannte Aktiengesellschaft Betreibung einzuleiten. Sollte die Y. AG dagegen Rechtsvorschlag erheben, so müssten die Ansprüche zivilprozessual geltend gemacht werden. Die Fortsetzung der Betreibung könnte dann nur aufgrund eines vollstreckbaren Entscheids erwirkt werden, welcher den Rechtsvorschlag ausdrücklich beseitigt.

 

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