Justizreform 2007
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Öffentliches Recht

Justizreform 2007

«Rechtsweggarantie: Jede Person hat bei Rechtsstreitigkeiten Anspruch auf Beurteilung durch eine richterliche Behörde. Bund und Kantone können durch Gesetz die richterliche Beurteilung in Ausnahmefällen ausschliessen.» Diese Bestimmung tritt als Art. 29a unserer Bundesverfassung am 1. Januar 2007 in Kraft. Zusammen mit anderen Verfassungsbestimmungen und insgesamt drei Bundesgesetzen wird auf Stufe Eidgenossenschaft die Justiz ziemlich umgebaut.

A) Bundesverfassung

Am 18. April 1999 wurde die neue Bundesverfassung von Volk und Ständen angenommen.

Bereits am 8. Oktober 1999 folgte deren erste Revision mit dem Bundesbeschluss über die Reform der Justiz.[1] Die Vorlage entstand parallel zur neuen Bundesverfassung, wurde aber gesondert vorgelegt, um deren «Nachschreiben» nicht mit materiellen Änderungen zu «belasten».

Diese Justizreform tritt nun auf den 1. Januar 2007 vollständig in Kraft. Einzelne Bestimmungen traten zusammen mit dem Bundesgesetz vom 4. Oktober 2002 über das Bundesstrafgericht (Strafgerichtsgesetz SGG) im Jahr 2003 in Kraft. Der Rest und grösste Teil folgt nun Anfang 2007.

Es geht insbesondere um die Rechtsweggarantie (BV Art. 29a), die Bundeskompetenz für Straf- und Zivilprozess (BV Art. 122f), die Einrichtung eines Bundesstrafgerichts und eines Bundesverwaltungsgerichts (BV Art. 191a). Neben damit verbundenen Massnahmen auch der Kantone ist BV Art. 191c bemerkenswert, welcher die richterliche Unabhängigkeit umschreibt.

B) Bundesgesetze BG

1) Bundesgesetz vom 17. Juni 2005 über das Bundesgericht (Bundesgerichtsgesetz BGG)

a) Künftig SR 173.110. Der Wortlaut des Gesetzes findet sich in BBI 2005, Seite 4045 ff.

b) Inkrafttreten: 1. 1. 2007

c) Damit aufgehoben wird das OG[2] (BGG Art. 131).

d) Übergangsbestimmung: Anwendbar ist das BGG nur dann, wenn auch der angefochtene Entscheid nach dem Inkrafttreten dieses Gesetzes «ergangen» ist (möglicherweise nicht gleichzusetzen mit «eröffnet» etc., BGG Art. 132 Abs. 1).

e) Der Bundesrat tritt betreffend SchKG[3] und SchGG[4] für die Oberaufsicht und das Vollzugsrecht an die Stelle des Bundesgerichts (BGG Art. 131 Abs. 2 bzw. Anhang, Ziff. 6 und 7). Die Beschwerden an das Bundesgericht bleiben vorbehalten.

f) Das BGG bringt drei Einheitsbeschwerden, in 

  • Zivilsachen (BGG Art. 72 bis 77), an Stelle der bisherigen Berufung,
  • Strafsachen, (BGG Art. 78 bis 81) an Stelle der bisherigen Nichtigkeitsbeschwerde und
  • öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten (BGG Art. 82 bis 89) an Stelle der bisherigen Verwaltungsgerichts-beschwerde.

 Weiter gibt es eine subsidiäre Verfassungsbeschwerde (BGG Art. 113 bis 119) an Stelle der bisherigen staatsrechtlichen Beschwerde sowie die Klage, wo diese noch möglich ist (BGG Art. 120 mit Verfahren nach BZP[5]).

Mit der Einheitsbeschwerde können (und müssen!) alle Rügen gemeinsam vorgebracht werden, also die Verletzung von schweizerischem (BGG Art. 95) und allenfalls ausländischem Recht (BGG Art. 96). Der Sachverhalt bleibt nur beschränkt überprüfbar (BGG Art. 97).

Weil die Einheitsbeschwerden nur beschränkt zugelassen werden (BGG Art. 73 für Zivilsachen und Art. 83 bis 85 für öffentlich-rechtliche Angelegenheiten), bleibt in den übrigen Fällen die subsidiäre Verfassungsbeschwerde. Weil die Zulassungsbeschränkungen wiederum beschränkt sind (Vorbehalt von «Rechtsfragen von grundsätzlicher Bedeutung» in BGG Art. 74 Abs. 2 lit. a und 85 Abs. 2), müssen allenfalls Beschwerde und subsidiäre Verfassungsbeschwerde eingereicht werden. Auch sie gehören in die gleiche Rechtsschrift (BGG Art. 119 Abs. 1).

g) Das BGG verlangt praktisch ausnahmslos Gerichtsbehörden als Vorinstanzen, bei kantonalen Vorinstanzen zudem in der Regel «obere Gerichte» (BGG Art. 75 Abs. 2, 80 Abs. 2 und 86 bis 88). Das gilt «sinngemäss» auch für die subsidiäre Verfassungsbeschwerde (BGG Art. 114).

h) Beachtenswert ist die Umschreibung der Behörden und Organisationen, die ihrerseits zur Beschwerde befugt sind (BGG Art. 76 Abs. 2, 81 Abs. 3 und 89 Abs. 2).

2) Bundesgesetz vom 4. Oktober 2002 über das Bundesstrafgericht (Strafgerichtsgesetz SGG)

a) Fundstelle: SR 173.71

b) In Kraft getreten am 1. August 2003. Das Bundesstrafgericht befindet sich in Bellinzona.

c) Da Gesetz und Gericht seit mehreren Jahren in Kraft bzw. Aktion sind, folgt hier nur der Hinweis auf BGG Art. 80 Abs. 1: Die Beschwerde in Strafsachen ist zulässig gegen Entscheide letzter kantonaler Instanzen und des Bundesstrafgerichtes.

3) Bundesgesetz vom 17. Juni 2005 über das Bundesverwaltungsgericht (Verwaltungsgerichtsgesetz VGG)

a) Künftig SR 173.32. Der Wortlaut des Gesetzes findet sich in BBl 2005, Seite 4093 ff.

b) Inkrafttreten: 1. 1. 2007. Das Bundesverwaltungsgericht wird anfänglich dezentral in Bern und ab ca. 2010, nach Fertigstellung des Neubaus, in St. Gallen sein.

c) Die Aufhebung eines Gesetzes hat das VGG nicht zur Folge. Über VGG Art. 49 Abs. 1 bzw. den Anhang werden aber 149 Bundesgesetze angepasst! Es geht hier vor allem um die damit wegfallenden Bestimmungen betreffend die dutzenden von Rekurskommissionen.

d) Übergangsbestimmung: Anwendbar ist das VGG nur dann, wenn auch der angefochtene Entscheid nach dem Inkrafttreten dieses Gesetzes «ergangen» ist (möglicherweise nicht gleichzusetzen mit «eröffnet» etc., VGG Art. 53 Abs. 1).

e) Kantonale Entscheide gehen in der Regel nicht über das Bundesverwaltungsgericht, es gibt Ausnahmen. Nach beiden Wegen steht in der Regel eine Beschwerde an das Bundesgericht offen (BGG Art. 86), die subsidiäre Verfassungsbeschwerde nach Art. 113 aber nur gegen kantonale Entscheide.

f) Das massgebende Verfahren vor Bundesverwaltungsgericht ist das VwVG.[6] Die Kognition des Bundesverwaltungsgerichts ist frei (Rechtsanwendung, Sachverhalt und Angemessenheit, im Rahmen von VwVG Art. 49). 

g) Entscheide der eidgenössischen Enteignungsschätzungskommissionen ESchK gehen in erster Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht. Ihm obliegt an Stelle des Bundesgerichts neu die Aufsicht über die ESchK (VGG Art. 49 Abs. 1 bzw. Anhang, Ziff. 65).

C) Handlungsbedarf in den Kantonen

4) Die Kantone haben eine Frist für den Erlass von Ausführungsbestimmungen über die Zuständigkeit, die Organisation und das Verfahren der Vorinstanzen (BGG Art. 130) und zwar

  • fünf Jahre für Zivil- und Strafsachen (Abs. 1) sowie
  • zwei Jahre für öffentlich-rechtliche Angelegenheiten (Abs. 2).

Ob die Bundesgerichte ihrerseits solange warten, ist nicht klar. Der Bundesrat möchte BGG Art. 130 noch vor seinem Inkrafttreten präzisieren bzw. ändern.[7]

5) Zu klären ist auch, ob Rechtswege in den Kantonen beeinflusst werden, weil das BGG ausdrücklich bestimmte Rechtsgebiete den Beschwerden in Zivil- bzw. Strafsachen zuordnet. So fallen

  • Entscheide in SchKG-Sachen und allgemein betreffend Vollstreckung von Zivilurteilen, Register, Namensänderung, Stiftungsaufsicht, Vormundschaft und Kindsschutz unter die Beschwerde in Zivilsachen (BGG Art. 72) und
  • Adhäsionsprozesse und der Strafvollzug unter die Beschwerde in Strafsachen (BGG Art. 78).

6) Mit den «oberen Gerichten» gilt in den Kantonen die Pflicht zur Einrichtung zweier Instanzen (vgl. Ziff. 1 lit. g hiervor). Der Bundesgesetzgeber lässt eine Vorinstanz in Ausnahmefällen zu (vgl. z.B. für das Handelsgericht BGG Art. 75 Abs. 2 lit. b). Die Kantone können darüber hinausgehen und z.B. drei Instanzen vorsehen.[8]

Die erste Instanz muss nicht ein Gericht sein, was vor allem in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten häufig der Fall sein dürfte.[9]

Eine persönliche Bemerkung des Verfassers: Es fragt sich, insbesondere in Fällen, die der Einheitsbeschwerde an das Bundesgericht unterliegen, ob zwei Vorinstanzen (ohne Präliminarverfahren wie Aussöhnungsversuch oder Strafmandat) auf kantonaler Ebene – im Zweifel mit voller Kognition – nicht genug sind. Wir haben im Kanton Bern häufig noch drei kantonale Instanzen.

7) Rechtsweggarantie und EMRK Art. 6[10]

Die Rechtsweggarantie gemäss BV Art. 29a bewirkt wohl keine Änderungen, so weit EMRK Art. 6 greift. Sie geht aber darüber hinaus und gewährleistet den Gang zum Gericht auch dort, wo es an «civil rights» fehlt. Das führt zu Anpassungsbedarf bei den Kantonen wohl vor allem im Bereich öffentlich-rechtlicher Angelegenheiten.

Wo die Rechtsweggarantie über EMRK Art. 6 hinausgeht, entfällt der Anspruch auf öffentliche Verhandlung.

Weiter ist zu beachten, dass der Bundesgesetzgeber vor allem mit BGG Art. 86 Abs. 3 in Verbindung mit Art. 114 die Ausnahmen vom Anspruch auf Gerichtszugang praktisch vollständig ausgeschlossen hat. Andere als gerichtliche Vorinstanzen bleiben den Kantonen für «Entscheide mit vorwiegend politischem Charakter», gewisse Stimmrechtssachen und die abstrakte Normenkontrolle (vgl. Ziff. 1 lit. g hiervor).

Fussnoten

  1. AS 2002, Seite 3148.

  2. Bundesgesetz vom 16. 12. 1943 über die Organisation der Bundesrechtspflege (heute noch SR 173.110)

  3. SR 281.1

  4. SR 282.11

  5. SR 273

  6. Bundesgesetz vom 20. 12. 1968 über das Verwaltungsverfahren (SR 172.021)

  7. Kotschaft zum Bundesgesetz über die Bereinigung und Aktualisierung der Totalrevision der Bundesrechtspflege vom 1. 3. 2006 (BBl 2006, Seite 3067 ff)

  8. Dr. iur. Christoph Auer in ZBl 2006, Ziff. 2c auf Seite 128.

  9. Dr. iur. Christoph Auer in ZBl 2006, Ziff. 2a auf Seite 126.

  10. Konvention vom 4.11.1950 zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten. Art. 6 gewährleistet für «civil rights» das «Recht auf ein faires Verfahren». Darunter gehören für wesentliche Streitigkeiten der Zugang zum Gericht, häufig mit Anspruch auf öffentliche Verhandlung (Ziff. 1), die Unschuldsvermutung im Strafverfahren (Ziff. 2) und weitere prozessuale Rechte (Ziff. 3: Orientierung in verständlicher Sprache, ausreichende Zeit zur Vorbereitung der Verteidigung, Recht auf eigene Verteidigung oder Beizug eines Verteidigers, Recht auf Stellung von Fragen an Belastungszeugen und unentgeltliche Unterstützung durch einen Dolmetscher, falls nötig).

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