Überholspur geblockt - Normalspur frei
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Strafrecht

Überholspur geblockt - Normalspur frei

Wir erleben es oft. Auf der mittleren und linken Überholspur bildet sich ein Kolonnenverkehr, auf der rechten Normalspur ist die Bahn jedoch frei. Die beiden Überholspuren sind von überholenden Fahrzeugen verstopft, so dass auf der Normalspur schneller gefahren werden kann. Die Fahrzeuge, welche sich auf der Überholspur befinden, könnten rechts überholt werden. Was gilt nun in diesen Situationen? Darf man rechts überholen oder muss man abbremsen und warten, bis die Kolonne vorbeigefahren ist?

Folgende Situationen treffen wir alltäglich auf der Autobahn an:

Situation A: Ein Auto vor uns überholt einen Car, ohne nach dem Überholvorgang auf die Normalspur zurückzukehren, weil 1 Kilometer weiter vorne ein Lastwagen auf der Normalspur fährt, welchen der Fahrzeugführer auch überholen möchte. Auf der Überholspur bildet sich eine lange Fahrzeugschlange.

Situation B: Wir fahren auf der Normalspur. Auf der mittleren und linken Überholspur bildet sich ein Kolonnenverkehr, auf der rechten Normalspur ist die Bahn jedoch frei. Die beiden Überholspuren sind von überholenden Fahrzeugen verstopft, so dass auf der Normalspur schneller gefahren werden kann. Die Fahrzeuge, welche sich auf der Überholspur befinden, könnten rechts überholt werden.

Was gilt nun in diesen Situationen? Darf man rechts überholen oder muss man abbremsen und warten, bis die Kolonne vorbeigefahren ist?

Grundsatz: Rechts fahren, links überholen

Auf Strassen mit mehreren Fahrstreifen in der gleichen Richtung gilt das Rechtsfahrgebot.[1] Dies bedeutet, dass grundsätzlich der äusserste Streifen rechts benützt werden muss. Dies gilt nicht beim Überholen, Einspuren, Fahren in parallelen Kolonnen sowie innerorts. Für die Autobahn bedeutet dies somit: Rechts fahren, links überholen. Sobald der Überholvorgang beendet ist, muss zwingend wieder auf die rechte Spur gewechselt werden.[2] Wer gegen das Rechtsfahrgebot verstösst, kann mit einer Ordnungsbusse von CHF 60.00 bestraft werden.[3] Es ist bekannt, dass die Polizei teilweise auf das Durchsetzen des Rechtsfahrgebots achtet und entsprechende Bussen ausspricht; oft geahndet wird diese Übertretung jedoch nicht.

Überholen und Vorbeifahren

Das Rechtsüberholen, also das Ausschwenken und Wiedereinbiegen, ist immer untersagt und wird innerorts mit einer Ordnungsbusse von CHF 120.00 bestraft.[4] Auf Autobahnen wird das Rechtsüberholen regelmässig als grobe Verletzung von Verkehrsregeln i.S.v. Art. 90 Abs. 2 SVG resp. als schwere Widerhandlung i.S.v. Art. 16c SVG qualifiziert und zieht einerseits eine Geldstrafe und einen Führerausweisentzug von mindestens drei Monaten nach sich.

Demgegenüber ist das Rechtsvorbeifahren an andern Fahrzeugen gestattet, einerseits innerorts auf Strassen mit mehreren Fahrstreifen in der gleichen Richtung, sofern diese Fahrzeuge nicht halten, um Fussgängern oder Benützern von fahrzeugähnlichen Geräten den Vortritt zu lassen[5] und anderseits auf der Autobahn u.a. beim Fahren in parallelen Kolonnen.[6]

Ob auf der Autobahn rechts an anderen Fahrzeugen vorbeigefahren werden darf, hängt somit davon ab, ob paralleler Kolonnenverkehr besteht oder nicht. Gemäss bisheriger Rechtsprechung setzte der Begriff "paralleler Kolonnenverkehr" dichten Verkehr auf beiden Fahrspuren voraus, also ein längeres Nebeneinanderfahren von mehreren sich in gleicher Richtung bewegenden Fahrzeugreihen.[7] Ein Rechtsvorbeifahren, sofern sich nur auf den linken Überholspuren Kolonnenverkehr bildet, wäre unzulässig. In unseren obgenannten Fällen wäre demnach ein Rechtsvorbeifahren unzulässig, man müsste auf die Geschwindigkeit der links fahrenden Fahrzeuge abbremsen, was den Verkehrsfluss stark beeinträchtigt und zu Stau oder Unfällen führen kann.

Neue Definition des Begriffs des Kolonnenverkehrs

Im März dieses Jahres hat das Bundesgericht bezüglich des Rechtsüberholens resp. -vorbeifahrens einen wegweisenden Entscheid gefällt, welcher in den Medien grosse Beachtung fand.[8] Trotzdem sind die Fahrzeugführer verunsichert, was nun genau gilt.

Das Bundesgericht hielt zwar an seiner Rechtsprechung zur Unterscheidung zwischen dem grundsätzlichen Verbot, (auf Autobahnen) rechts zu überholen, und dem erlaubten Rechtsvorbeifahren fest, jedoch definierte es den Begriff des Kolonnenverkehrs neu oder in seinen Worten: es "präzisierte" diesen.

Das Bundesgericht stellte fest, dass trotz des geltenden Rechtsfahrgebotes das verbotene Linksfahren heute stark verbreitet ist und vor allem zu Stosszeiten auf der linken und mittleren Überholspur - im Gegensatz zur Normalspur - häufig dichterer Verkehr herrscht. Das Bundesgericht sah auch die Folge davon, welche wir tagtäglich erleben: auf der Überholspur kommt es zum Handorgeleffekt, während der Verkehr auf der Normalspur flüssig und bei konstanter Geschwindigkeit sogar schneller fliesst.

Das Bundesgericht hielt fest, dass die Beurteilung, ob paralleler Kolonnenverkehr vorliegt, anhand des konkreten Gesamtverkehrsaufkommens vorzunehmen ist. Es kommt also - wie immer - auf die Situation an. Interessant und wesentlich ist die Aussage des Bundesgerichts, dass paralleler Kolonnenverkehr bereits dann anzunehmen ist, wenn es auf der linken (und) mittleren Überholspur zu einer derartigen Verkehrsverdichtung kommt, dass Fahrzeuge auf der Überholspur faktisch nicht mehr schneller vorankommen als diejenigen auf der Normalspur, also die gefahrenen Geschwindigkeiten annähernd gleich sind. Der parallele Kolonnenverkehr setzt nicht voraus, dass sich die Fahrzeugkolonnen auf allen Fahrspuren permanent mit identischer Geschwindigkeit unter Einhaltung gleichgrosser Abstände fortbewegen. Im Gegensatz zur bisherigen Rechtsprechung ist also kein dichter Verkehr auf beiden Fahrspuren vorausgesetzt.

Das Bundegericht führte weiter aus, es könne nicht sein, dass die das Rechtsfahrgebot und die Abstandsvorschriften ignorierenden Fahrer auf der mittleren Überholspur privilegiert werden, jedoch der vorschriftsmässig auf der Normalspur fahrende Fahrzeuglenker für ein Vorbeifahren gebüsst werde, weil er das Rechtsfahrgebot einhält und Abstandsvorschriften beachtet. Ein auf der Normalspur fahrendes Fahrzeug müsse seine Geschwindigkeit nicht anpassen, nur weil ein (zu) langsam fahrendes Fahrzeug auf der linken Überholspur den Autobahnverkehr stark behindert. Dies führe zu nicht vorhersehbaren, gefährlichen Stockungen für den nachfolgenden Verkehr und schade dem Verkehrsfluss. Ein Rechtsvorbeifahren müsse in einer solchen Situation möglich sein.

Wiedereinbiegen?

Es stellt sich die Frage, wann nach dem Vorbeifahren auf der Normalspur wieder auf die Überholspur gewechselt werden darf. Sprich: Wie ist der Fall zu beurteilen, wenn man an einem langsam fahrenden Fahrzeug vorbeigefahren ist und nach einem Kilometer ein LKW auf der Normalspur fährt? Darf man diesen nun links überholen, indem man auf die Überholspur wechselt oder nicht? Dies wäre ja - streng genommen - ein Ausschwenken und Wiedereinbiegen und damit ein verbotenes Rechtsüberholen des auf der Überholspur fahrenden Fahrzeuges.

Ein Ausschwenken für sich allein oder ein Einbiegen für sich allein ist gestattet.[9] Danach darf der Fahrzeugführer auf Strassen, die für den Verkehr in gleicher Richtung in mehrere Fahrstreifen unterteilt sind, seinen Streifen verlassen, wenn er dadurch den übrigen Verkehr nicht gefährdet. Blosses Rechtsvorbeifahren an anderen Fahrzeugen unter Wechsel des Fahrstreifens ist also gestattet, wenn dies ohne Behinderung des übrigen Verkehrs möglich ist.[10] Nicht blosses Vorbeifahren, sondern ein Überholen liegt gemäss Bundesgericht "jedenfalls dann vor, wenn das Ausschwenken, das Vorbeifahren an einem oder bloss wenigen Fahrzeugen und das anschliessende Wiedereinbiegen in einem Zuge erfolgten". Dies ist beispielweise dann der Fall, wenn ein Fahrzeuglenker die Lücken in den parallelen Kolonnen so ausnützt, dass er nur um zu überholen kurz auf der rechten Fahrbahn fährt und gleich wieder nach links einbiegt.[11]

Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass ein Rechtsvorbeifahren und ein Wiedereinbiegen auf die linke Überholspur zulässig ist, wenn die beiden Tätigkeiten nicht als ein einziger Vorgang zu beurteilen sind. Es kann ja nicht sein, dass man im obgenannten Fall hinter dem LKW warten muss, bis einem das langsam fahrende Fahrzeug und der diesem folgende Kolonne überholt hat.

Kritik

Wie so oft, ist jeder Einzelfall für sich zu beurteilen und es bleiben Abgrenzungsschwierigkeiten bestehen. Meines Erachtens wäre die einzige sinnvolle Lösung, das Rechtsüberholverbot auf gesetzlicher Ebene aufzuheben. Das Rechtsüberholen ist nur dann gefährlich, wenn damit nicht gerechnet wird. Würde das zulässige Rechtsüberholen eingeführt und entsprechend darauf aufmerksam gemacht, würde dies sowohl dem Verkehrsfluss, wie aber auch der Verkehrssicherheit dienen. Denn jeder Fahrzeugführer - unabhängig davon, auf welchem Fahrstreifen er sich befindet - ist verpflichtet, den Spurwechsel anzuzeigen, auf die ihm nachfolgenden Fahrzeuge Rücksicht zu nehmen und den Spurwechsel nur unter Einhaltung des erforderlichen Sicherheitsabstandes vorzunehmen.

Die heutige undurchsichtige Regelung mit der Abgrenzung zwischen dem (zulässigen) Rechtsvorbeifahren und (verbotenen) Rechtsüberholen ist äusserst schwierig, es besteht eine grosse Unsicherheit.

Fazit

Auch nach der neuen bundesgerichtlichen Rechtsprechung ist das Rechtsüberholen weiterhin unzulässig. Im Einzelfall ist je nach dem konkreten Gesamtverkehrsaufkommen das Rechtsvorbeifahren dann zulässig, wenn die Fahrzeuge auf der Überholspur faktisch nicht mehr schneller vorankommen als diejenigen auf der Normalspur. Das Ausschwenken, Vorbeifahren und anschliessende Wiedereinbiegen ist nur in Situationen zulässig, wenn diese Aktionen nicht in einem Zuge, sondern für sich allein erfolgen.

Dieser Artikel wurde erstmals im Clubmagazin des ACS Sektion Bern Ausgabe 04/2016 veröffentlicht.

Fussnoten

  1. Vgl. Art. 8 der Verkehrsregelverordnung (VRV).

  2. Vgl. Art. 10 Abs. 2 VRV.

  3. Vgl. Ziff. 314.1 des Anhangs 1 zur Ordnungsbussenverordnung OBV.

  4. Vgl. Ziff. 314.2, Anhang 1, OBV und Art. 35 Abs. 1 SVG.

  5. Vgl. Art. 8 Abs. 3 VRV.

  6. Vgl. Art. 36 Abs. 5 lit. a. VRV.

  7. Vgl. z.B. BGE 124 IV 219 E. 3a.

  8. Vgl. BGE 142 IV 93.

  9. Vgl. Art. 44 Abs. 1 SVG.

  10. Vgl. BGE 126 IV 192 E.2.a.

  11. Vgl. BGE 115 IV 244 E.3.b. und BGE 126 IV 192 E.2.a.

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