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Privatrecht

Update Familienrecht: die aktuelle Rechtsprechung des Bundesgerichts zum Unterhaltsrecht

Das Bundesgericht hat in letzter Zeit bekanntlich wegweisende Urteile im Bereich des Familienrechts gefällt. Dabei wurden wichtige Fragen im Unterhaltsrecht geklärt und teilweise hat das Bundesgericht die bisherige Rechtsprechung geändert. Insbesondere wurde festgelegt, dass zur Berechnung von sämtlichen Arten von Unterhalt für Kinder oder für geschiedene Ehegatten zukünftig schweizweit nur noch eine bestimmte Methode anzuwenden ist, nämlich die sogenannte zweistufige Methode mit Überschussverteilung.

Weiter nahm das Bundesgericht auch bezüglich der Frage, wann einem Ehegatten nach der Scheidung die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit zuzumuten sowie in welchen Fällen überhaupt von einer  lebensprägenden Ehe auszugehen ist, eine weitgehende Änderung seiner Spruchpraxis vor. Nachfolgend werden die wichtigsten Urteile kurz kommentiert:

Berechnung von Unterhaltsansprüchen gemäss Lebenshaltungskostenmethode

Lange Zeit liess das Bundesgericht verschiedene Methoden für die Berechnung von Unterhaltszahlungen (sei dies ehelicher Unterhalt, nachehelicher Unterhalt oder Kindesunterhalt) zu, weshalb  Unterhaltsberechnungen von den kantonalen Gerichten unterschiedlich erfolgen konnten. Mit Entscheid vom 11. November 2020 [1] legte das Bundesgericht fest, dass die Berechnung verbindlich nach der Lebenshaltungskostenmethode (sog. zweistufige Methode mit Überschussverteilung) zu erfolgen habe. Dies gilt nunmehr für sämtliche Arten von Unterhaltszahlungen, also für die Berechnung des Kindsunterhalts, [2] für den nachehelichen Unterhalt [3] und schliesslich für den ehelichen Unterhalt [4]. Dabei hat das Bundesgericht eingehend umschrieben, wie die Berechnung des Unterhalts konkret zu erfolgen hat:

Zuerst ist von allen Personen (Eltern und Kindern) das Einkommen zu ermitteln. Dazu gehört sämtliches Erwerbseinkommen und Ersatzeinkommen, Vermögenserträge und Vorsorgeleistungen sowie ausnahmsweise auch ein gewisser Vermögensverzehr, was das Bundesgericht in einem neueren Urteil nun ebenfalls festgehalten hat [5]. In einem zweiten Schritt ist der Bedarf zu ermitteln, wobei vom betreibungsrechtlichen Existenzminimum auszugehen ist. Folgende Kosten sind insbesondere zu berücksichtigen: Grundbedarf, Wohnkosten, Kosten für die obligatorische Krankenversicherung
sowie Berufskosten. Nicht zum betreibungsrechtlichen Existenzminimum zu rechnen sind die Steuern, was in der Praxis allerdings erhebliche Probleme bereiten kann.

Erst wenn das Existenzminimum aller Beteiligten gedeckt werden kann, erfolgt die Erweiterung zum familienrechtlichen Grundbedarf, wozu auch die Steuern gehören [6]. Diejenigen Mittel, welche nach der Deckung des familienrechtlichen Grundbedarfs übrigbleiben, bilden den Überschuss. Dieser ist in der Regel nach grossen und kleinen Köpfen zu verteilen, sprich ein voller Kopfanteil je für die Erwachsenen und ein halber Anteil für die noch minderjährigen Kinder. Der Überschussanteil besteht in einem Betrag zur freien Verfügung, mit dem über den Grundbedarf hinausgehende Kosten gedeckt werden können [7]. Keinen Anspruch auf Überschussverteilung haben indes volljährige Kinder und Eltern mit blossem Anspruch auf Betreuungsunterhalt [8]. Bei alternierender Betreuung ist der Unterhalt bei ähnlicher Leistungsfähigkeit proportional zu den Betreuungsanteilen zu tragen, bei je hälftiger Betreuung proportional zur Leistungsfähigkeit [9].

Erwerbsobliegenheit

Weiter hat das Bundesgericht nun ausdrücklich festgehalten, dass ab der Scheidung (bzw. ab dem Zeitpunkt der Trennung, falls keine vernünftige Aussicht auf Wiederaufnahme des Ehelebens mehr besteht) für jeden Ehegatten das sogenannte Primat der Eigenversorgung gilt. Das heisst, es besteht grundsätzlich eine Obliegenheit zur Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt bzw. zur Ausdehnung einer bestehenden Arbeitstätigkeit. Nur wenn der gebührende Unterhalt bei zumutbarer Anstrengung nicht oder nicht vollständig gedeckt werden kann, besteht ein Anspruch auf Unterhaltszahlungen,
wobei nicht nur der unterhaltsverpflichtete Elternteil zur vollen Ausschöpfung seiner Erwerbskraft angehalten wird, sondern auch der potenziell anspruchsberechtigte Elternteil. [10] In diesem Zusammenhang wurde die früher geltende 10/16-Regel vom Bundesgericht durch das Schulstufenmodell ersetzt.[11] Demnach ist der Elternteil, der die Kinder betreut, nun bereits ab dem Eintritt des jüngsten Kindes in den
obligatorischen Schulunterricht (je nach Kanton gilt dies bereits ab dem Kindergarten) gehalten, ein Arbeitspensum von 50 Prozent aufzunehmen, mit dessen Übertritt in die Oberstufe von 80 Prozent und ab dem vollendeten 16. Altersjahr dieses Kindes 100 Prozent.[12]

Zum Begriff der lebensprägenden Ehe

Schliesslich hat das Bundesgericht den Begriff der lebensprägenden Ehe, welche im Scheidungsfall einen Anspruch auf nachehelichen Unterhalt im Sinne der Beibehaltung des bisherigen ehelichen  Lebensstandards gibt, weiterentwickelt.

Nach der bisherigen Rechtsprechung galt eine Ehe vermutungsweise als lebensprägend, wenn diese ab Heirat bis zur faktischen Trennung mehr als zehn Jahre gedauert hatte oder wenn aus ihr Kinder hervorgingen. Neu ist im Einzelfall eine individuelle Prüfung, inwiefern die Ehe das Leben der Ehegatten entscheidend geprägt hat, erforderlich. Eine Ehe wird dann als lebensprägend betrachtet, wenn ein Ehegatte seine ökonomische Selbstständigkeit zugunsten der Haushaltsbesorgung und Kinderbetreuung aufgegeben hat und es ihm deshalb nach langjähriger Ehe nicht mehr möglich ist, an seine frühere berufliche Stellung anzuknüpfen, während sich der andere Ehegatte angesichts der Aufgabenteilung auf sein berufliches Fortkommen konzentrieren konnte. Im Fall der Bejahung ist die Dauer des  nachehelichen Unterhalts aufgrund der konkreten Umstände zeitlich angemessen zu befristen.[13]

Gemäss Bundesgericht hat die Ehe in den letzten Jahrzehnten nämlich ihren Charakter als Versorgungsinstitut eingebüsst. Haben sich die Ehegatten während des Zusammenlebens auf eine gewisse Aufgabenteilung verständigt, so kann diese laut Bundesgericht nach der Trennung nicht bis in alle Ewigkeit fortgesetzt werden. Allerdings soll demjenigen Ehegatten,  er sich bislang ganz oder überwiegend der Kinderbetreuung widmete, nach der Trennung eine nach Möglichkeit grosszügig bemessene Übergangsfrist eingeräumt werden, bevor von ihm die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit verlangt wird.
Gemäss Bundesgericht kann es keinen Anspruch auf lebenslängliche finanzielle Gleichstellung der Ehegatten mehr geben, ansonsten ökonomisch über die Tatsache der Scheidung hinweggegangen würde.[14]

Ebenfalls hat das Bundesgericht in diesem Zusammenhang die sogenannte 45er-Regel (wonach einem vollständig ausserhalb des Erwerbslebens stehenden Ehegatten nach Erreichen des 45. Altersjahrs die Wiederaufnahme einer Erwerbstätigkeit nicht mehr zumutbar sei) zugunsten einer einzelfallgerechten konkreten Prüfung formell aufgegeben.[15] Neu ist grundsätzlich stets von der Zumutbarkeit einer Erwerbsarbeit auszugehen, soweit eine solche Möglichkeit tatsächlich besteht und keine Hinderungsgründe vorliegen, wie z.B. die Kinderbetreuung.[16]

Fazit

Die neue Rechtsprechung des Bundesgerichts wurde eingehend kommentiert, sowohl in der rechtlichen Literatur [17] als auch in der Presse: So wurde z.B. geschrieben, dass das Bundesgericht die Ehe neu erfinde, bzw. war gar von einer Revolution für die Institution der Ehe in der Schweiz die Rede.[18] Aus rechtlicher Sicht dürften die verstärkte Erwerbsobliegenheit der Unterhaltsberechtigten und die Neuumschreibung des Begriffs der Lebensprägung der Ehe tendenziell die Unterhaltsverpflichteten begünstigen. Ziel jeder Unterhaltsberechnung muss indes nach wie vor sein, die vorhandenen Mittel fair zu verteilen und die eingegangenen Risiken angemessen zu berücksichtigen, weshalb dem urteilenden Gericht bei jeder Berechnung stets ein gewisses Ermessen zusteht, um dem Einzelfall gerecht zu werden.[19]

 

 

Fussnoten

  1. BGE 147 III 265; vgl. auch bereits BGE 144 III 377.

  2. BGE 147 III 265, E. 6.

  3. BGE 147 III 293, E. 4.5.

  4. BGE 147 III 301, E. 4.

  5. BGer 5A_582/2018, 5A_588/2018, 1. Juli 2021, E. 6.

  6. Zur Steueraufteilung siehe nun BGer 5A_816/2019, 25. Juni 2021, E. 4.2.2 (zur Publikation vorgesehen).

  7. Dazu gehören insb. die Kosten für Hobbys, welche nicht zum familienrechtlichen Grundbedarf gerechnet werden; vgl. Daniel Bähler, Unterhaltsrecht – Streiflichter auf die neue Rechtsprechung des Bundesgerichts, in dubio 4/2021,  9.

  8. BGE 147 III 265, E. 7.2 betr. Volljährigenunterhalt sowie BGE144 III 377, E. 7.1.4 und BGE 147 III 265, E. 7.2 betr. Betreuungsunterhalt; dazu: Bähler (zit. in Fn. 7), 11.

  9. So nun auch: BGer 5A_117/2021, 9. März 2022.

  10. BGE 147 III 249, E. 3.4.4; BGE 147 III 308, E. 5.2; BGE 147 III 301, E. 6.2.

  11. Vgl. bereits BGE 144 III 481.

  12. Kritisch zum Schulstufenmodell: Karin Meyer, Unterhaltsberechnung: Ist jetzt alles klar?, in: FamPra.ch 2021, 908.

  13. BGE 147 III 249, E. 3.4.3; siehe nunmehr auch BGer 5A_568/2021, 25. März 2022, E. 4.3.1, wonach aus dem Vorhandensein gemeinsamer Kinder der Ehegatten nicht mehr auf die Lebensprägung geschlossen werden kann.

  14. BGE 147 III 249, E. 3.4.5.

  15. BGE 147 III 308, E. 5.5.

  16. Kritisch dazu: Claudia Maria Mordasini-Rohner / Diego Stoll, Die Praxisänderungen im (nach-)ehelichen Unterhaltsrecht auf dem Prüfstand (2/2), 551.

  17. Vgl. Bähler (zit. in Fn. 7), 6 ff.; Regina Aebi-Müller, Familienrechtlicher Unterhalt in der neusten Rechtsprechung, in: Jusletter 3. Mai 2021; Claudia M. Mordasini / Diego Stoll, Die Praxisänderungen im (nach-)ehelichen  Unterhaltsrecht auf dem Prüfstand, in: FamPra.ch 2021, 527 ff.

  18. Der Bund, 11. März 2021, 2; vgl. auch: Für Hausfrauen wird es ungemütlich, in: Der Bund, derbund.ch, 23. April 2022.

  19. Bähler (zit. in Fn. 7), 11 und 23.

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