Verrottet die Legalität im Kompost des Umweltrecht...
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Öffentliches Recht

Verrottet die Legalität im Kompost des Umweltrechts?

Meine Tätigkeit als Rechtsanwalt hat mit Rechtsanwendung zu tun. Wenn ich mich dabei mit öffentlichem Recht befasse, insbesondere mit Raumplanungs- oder Umweltrecht, fühle ich mich dabei durch Politik «gestört»: Es kommt zu Streitigkeiten, für welche die Grundlagen nicht mehr in Gesetzen und Verordnungen zu suchen sind, wie es einem Rechtsstaat gebührt, sondern in sogenannt behördenverbindlichen Massnahmen- und Richtplänen. Gutes Beispiel bietet im Kanton Bern das sogenannte Fahrleistungsmodell. Wird das Recht von der Politik gestört?
Wenn sich unser Bundesparlament schwer tut, die vom Volk offenbar unerwartet angenommene «Verwahrungsinitiative » im Gesetz verfassungs- und völkerrechtskonform umzusetzen, taucht die Frage umgekehrt auf: Wird die Politik (Demokratie) durch das Recht gestört?

Die Politik

Wir leben in einer Demokratie. Gesetze, die uns beschränken und beschützen, sollen wir uns selber geben können. Das ist gut so: Dem betroffenen Volk gehört das letzte Wort, sei dies in der Gemeinde, im Kanton oder beim Bund.

Das Volk kann über sein Ja oder sein Nein frei entscheiden, heute so und morgen anders. Damit verbunden ist eine gewisse Unberechenbarkeit. Es ist also richtig, wenn das Volk tun und lassen kann, was es will. Aber auch seine Macht ist einzugrenzen, sie darf nicht zur Allmacht werden (Gewaltenteilung).

Ein Wort an unseren Justizminister, wenn er in der 1. August-Rede beklagt, das Völkerrecht bedrohe die Demokratie: Auch unsere Eidgenossenschaft nahm ihren Anfang 1291 mit einem völkerrechtlichen Vertrag.

Das Recht

Wir leben in einem Rechtsstaat. Recht ist geronnene Politik. Das Produkt demokratischer Ausmarchung ist das Gesetz. Oder umgekehrt: Unser Recht soll einerseits demokratisch legitimiert sein. Es soll andererseits mit seiner «Erstarrung der errungenen Lösung» der Gefahr jederzeit möglicher, neuer Mehrheiten bei der Demokratie ein Stück weit entzogen sein. Die Herrschaft des Gesetzes heisst Legalitätsprinzip.[1] Den Ansprüchen des Legalitätsprinzips entsprechen Gesetze im formellen Sinn (sie sind durch das Parlament erlassen und haben das Referendum überstanden) oder im materiellen Sinn (Vollziehungsvorschriften, sie haben sich an das übergeordnete Recht zu halten und können von den Gerichten daraufhin überprüft werden).

Die Politik, oder eben das Volk über unsere Verfassung, hat es den Gerichten verboten, Bundesgesetze auf Übereinstimmung mit Bundesverfassung oder Völkerrecht zu überprüfen. Im Schatten dieses Prüfungsverbotes hat der Gesetzgeber – also die Politik – einen Zwitter beziehungsweise «halbes Recht» geschaffen. Es sind dies die sogenannten Richtpläne nach RPG[2] Art. 6 ff und 26 und die Massnahmenpläne nach USG[3] Art. 44a. Nach dem Wortlaut des Gesetzes sind sie «behördenverbindlich». Wie schon der Name sagt, dürfen derartige Pläne Bürgerinnen und Bürger sowie Unternehmen nicht direkt beschränken, eben auch, weil es ihnen an der demokratischen Legitimität fehlt.

Und sie tun es trotzdem: Sobald einzelne Vorhaben schweizerischen Durchschnitt verlassen – das ist eine geliebte Zone für Grenzgänge unseres Systems – lässt auch das Bundesgericht diese behördenverbindlichen Instrumente direkt zur Anwendung kommen, als ob es Gesetze wären. Prominentes Beispiel sind die Bundesgerichtsentscheide Hardturm und vor allem Seedamm[4] im Zusammenhang mit dem sogenannten «Fahrtenmodell» bzw. «Fahrleistungsmodell».

Nach diesem Modell sollen gewisse Anlagen – in der Regel sind es Einkaufszentren – mit einer Begrenzung der durch sie «verursachten» Autofahrten versehen werden. Dieses Fahrtenmodell (im Kanton Bern wurde es selbstverständlich noch einmal «verbessert» und heisst hier zurzeit Fahrleistungsmodell) wurde fernab vom demokratischen Wind entwickelt, wo es vermutlich und zum Teil auch erfahrungsgemäss einen schweren Stand hätte. Zudem macht es die davon betroffenen Anlagen zu Sündenböcken, obwohl wir Autofahrenden die eigentlichen Verursacherinnen und Verursacher sind.[5]

Indem das Bundesgericht die Massnahmenpläne als Grundlage für neuartige Beschränkungen zulässt, ja gerade voraussetzt, werden «Erfindungen» zu Rechtsgrundlagen, die mit Recht höchstens die Hälfte zu tun haben.

Wenn Recht und sein Legalitätsprinzip mit geronnener Politik verbildlicht werden kann, scheinen Umwelt- und Raumplanungsrecht an einer Gerinnungsschwäche zu leiden. Oder anders rum: Verrottet die Legalität im Kompost des Umweltrechts?

Fussnoten

  1. Dieses verlangt eine «hinreichende und angemessene Bestimmtheit der anzuwendenden Rechtssätze. Das Erfordernis der Bestimmtheit steht im Dienste des Grundsatzes des Gesetzesvorbehalts, der Rechtssicherheit mit den Elementen der Berechenbarkeit und Vorhersehbarkeit staatlichen Handelns sowie der rechtsgleichen Rechtsanwendung». (Bundesgerichtsentscheid BGE 128 I 327 ff, E.4.2 auf Seite 339)

  2. Bundesgesetz über die Raumplanung RPG (SR 700)

  3. Bundesgesetz über den Umweltschutz USG (SR 814.01)

  4. Bundesgerichtsentscheid BGB 131 II 103 ff i. S. Seedamm-Center in Pfäffikon, E.2.5.1: «Es ist grundsätzlich Sache des Massnahmenplanes, die für die Verbesserung der Luftqualität erforderlichen Massnahmen auszuwählen, Art und Weise ihres Vollzugs zu bestimmen und den Realisierungszeitraum festzulegen …»

  5. Nach plausiblen Studien werden durch das Fahrtenmodell nur gerade 3% des motorisierten Individualverkehrs MIV in der Schweiz betroffen. Die restlichen 97% des MIV sind davon nicht betroffen.

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