Rechts überholen?
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Strafrecht

Rechts überholen?

Immer wieder kommt es vor, dass ein langsames Fahrzeug auf der linken oder mittleren Spur den Verkehr auf der Autobahn behindert. Ich denke da an folgende Situationen:

Ein Auto vor mir überholt bei einer erlaubten Höchstgeschwindigkeit von 120 km/h mit 100 km/h einen LKW, ohne nach dem Überholvorgang auf die Normalspur zurückzukehren, weil ein Kilometer weiter vorne ein Car auf der Normalspur fährt, welchen der Fahrzeugführer auch noch überholen möchte. Auf der Überholspur bildet sich eine lange Fahrzeugschlange.

Ich fahre auf der Normalspur. Auf der mittleren und linken Überholspur bildet sich ein Kolonnenverkehr, auf der rechten Normalspur ist die Strasse jedoch frei. Die beiden Überholspuren sind von überholenden Fahrzeugen besetzt, sodass auf der Normalspur schneller gefahren werden kann. Die Fahrzeuge, welche sich auf der Überholspur befinden, könnten rechts überholt werden. Was gilt nun in diesen Situationen? Nach einem Entscheid des Bundesgerichts im Jahr 2016 und den Bestrebungen des Bundesrats, das Rechtsvorbeifahren zu erlauben, besteht in der Bevölkerung Unsicherheit. Darf man in den obgenannten Situationen nun rechts überholen oder muss man abbremsen und warten, bis das langsame Fahrzeug vorbeigefahren ist?

Grundsatz: rechts fahren, links überholen

Auf Strassen mit mehreren Fahrstreifen in der gleichen Richtung gilt das Rechtsfahrgebot.1 Dies bedeutet, dass grundsätzlich der äusserste Streifen rechts benutzt werden muss. Dies gilt nicht beim Überholen, Einspuren, Fahren in parallelen Kolonnen sowie innerorts. Für die Autobahn bedeutet dies somit: rechts fahren, links überholen. Sobald der Überholvorgang beendet ist, muss zwingend wieder auf die rechte Spur gewechselt werden.[2] Wer gegen das Rechtsfahrgebot verstösst, kann mit einer Ordnungsbusse von CHF 60.– bestraft werden.[3] Es ist bekannt, dass die Polizei teilweise auf das Durchsetzen des Rechtsfahrgebots achtet und entsprechende Bussen ausspricht; oft geahndet wird diese Übertretung jedoch nicht.

Überholen und Vorbeifahren

Das Rechtsüberholen, also das Ausschwenken und Wiedereinbiegen, ist immer untersagt und wird innerorts mit einer Ordnungsbusse von CHF 120.–  bestraft.[4] Auf der Autobahn wird das Rechtsüberholen regelmässig als grobe Verletzung von Verkehrsregeln i.S.v. Art. 90 Abs. 2 SVG resp. als schwere Widerhandlung i.S.v. Art. 16c SVG qualifiziert. Dies zieht einerseits eine Geldstrafe und einen Führerausweisentzug von mindestens drei Monaten nach sich.

Demgegenüber ist das Rechtsvorbeifahren an anderen Fahrzeugen in folgenden Situationen gestattet: innerorts auf Strassen mit mehreren Fahrstreifen in der gleichen Richtung, sofern diese Fahrzeuge nicht halten, um Fussgängern oder Benützern von fahrzeugähnlichen Geräten den Vortritt zu lassen.[5] Auf der Autobahn beim Fahren in parallelen Kolonnen; auf Einspurstrecken, sofern für die einzelnen Fahrstreifen unterschiedliche Fahrziele signalisiert sind; auf dem Beschleunigungsstreifen von Einfahrten bis zum Ende der Doppellinienmarkierung sowie auf dem Verzögerungsstreifen von Ausfahrten.[6]

Ob auf der Autobahn rechts an anderen Fahrzeugen vorbeigefahren werden darf, hängt somit grundsätzlich davon ab, ob paralleler Kolonnenverkehr besteht oder nicht. Gemäss früherer Rechtsprechung setzte der Begriff paralleler Kolonnenverkehr dichten Verkehr auf beiden Fahrspuren voraus, also ein längeres Nebeneinanderfahren von mehreren sich in gleicher Richtung bewegenden Fahrzeugreihen.[7] Ein Rechtsvorbeifahren, sofern sich nur auf der linken Überholspur Kolonnenverkehr bildet, war demnach unzulässig. In unseren obgenannten Fällen war demnach ein Rechtsvorbeifahren unzu-lässig, man musste auf die Geschwindigkeit der links fahrenden Fahrzeuge achten und abbremsen, was den Verkehrsfluss stark beeinträchtigen und zu Stau oder Unfällen führen kann.

Definition des Begriffs des Kolonnenverkehrs

Im März 2016 fällte das Bundesgericht bezüglich des Rechtsüberholens resp. -vorbeifahrens einen wegweisenden Entscheid, welcher in den Medien grosse Beachtung fand.[8] Das Bundesgericht hält zwar an seiner Rechtsprechung zur Unterscheidung zwischen dem grundsätzlichen Verbot (auf Autobahnen), rechts zu überholen, und dem erlaubten Rechtsvorbeifahren im Kolonnenverkehr fest, jedoch definiert es den Begriff des Kolonnen-verkehrs neu oder in seinen Worten: Es «präzisiert» diesen.

Das Bundesgericht stellt fest, dass trotz des geltenden Rechtsfahrgebotes das verbotene Linksfahren heute stark verbreitet sei und vor allem zu  Stoss-zeiten auf der linken und mittleren Überholspur – im Gegensatz zur Normalspur – häufig dichterer Verkehr herrsche. Das Bundesgericht sieht auch die Folge davon, welche wir tagtäglich erleben: Auf der Überholspur kommt es zum  Handorgeleffekt, während der Verkehr auf der Normalspur flüssig  und bei konstanter Geschwindigkeit sogar schneller fliesst.

Das Bundesgericht hält fest, dass die Beurteilung, ob paralleler Kolonnenverkehr vorliegt, anhand des konkreten Gesamtverkehrsaufkommens vor-zunehmen ist. Es kommt also – wie immer – auf den konkreten Einzelfall an. Wesentlich ist, dass gemäss Bundesgericht paralleler Kolonnenverkehr bereits dann anzunehmen ist, wenn es auf der linken (und mittleren) Überholspur zu einer derartigen Verkehrsverdichtung kommt, dass Fahrzeuge auf der Überholspur faktisch nicht mehr schneller vorankommen als diejenigen auf der Normalspur, also die gefahrenen Geschwindigkeiten annähernd gleich sind. Der parallele Kolonnenverkehr setzt nicht voraus, dass sich die Fahrzeugkolonnen auf allen Fahrspuren permanent mit identischer Geschwindigkeit unter Einhaltung gleich grosser Abstände fortbewegen. Im Gegensatz zur bisherigen Rechtsprechung wird also kein dichter Verkehr auf beiden Fahrspuren vorausgesetzt.

Das Bundesgericht führt weiter aus, es könne nicht sein, dass die das Rechtsfahrgebot und die Abstandsvorschriften ignorierenden Fahrer auf der mittleren Überholspur privilegiert werden, jedoch der vorschriftsmässig auf der Normalspur fahrende Fahrzeuglenker für ein Vorbeifahren gebüsst werde, obwohl er das Rechtsfahrgebot einhält und die Abstandsvorschriften beachtet. Ein auf der Normalspur fahrendes Fahrzeug müsse seine Geschwindigkeit nicht anpassen, nur weil ein (zu) langsam fahrendes Fahrzeug auf der linken Überholspur den Autobahnverkehr stark behindert. Dies führe zu nicht vorhersehbaren, gefährlichen Stockungen für den nachfolgenden Verkehr und schade dem Verkehrsfluss. Ein Rechtsvorbeifahren müsse in einer solchen Situation möglich sein.

Wiedereinbiegen nach dem Rechtsvorbeifahren

Es stellt sich die Frage, wann nach dem Vorbeifahren auf der Normalspur wieder auf die Überholspur gewechselt werden darf. Sprich: Wie ist der Fall zu beurteilen, wenn man an einem langsam fahrenden Fahrzeug rechts vorbeigefahren ist und nach einem Kilometer ein Car auf der Normalspur fährt? Darf man auf die Überholspur wechseln und diesen links überholen? Dies wäre ja – streng genommen – ein Ausschwenken und Wiedereinbiegen und damit ein verbotenes Rechtsüberholen des auf der Überholspur fahrenden Fahrzeuges.

Ein Ausschwenken für sich allein oder ein Einbiegen für sich allein ist gestattet.[9] Danach darf der Fahrzeugführer auf Strassen, die für den Verkehr in gleicher Richtung in mehrere Fahrstreifen unterteilt sind, seinen Streifen verlassen, wenn er dadurch den übrigen Verkehr nicht gefährdet. Blosses Rechtsvorbeifahren an anderen Fahrzeugen unter Wechsel des Fahrstreifens ist also gestattet, wenn dies ohne Behinderung des übrigen Verkehrs möglich ist.[10] Nicht blosses Vorbeifahren, sondern ein Überholen liegt gemäss Bundesgericht «jedenfalls dann vor, wenn das Ausschwenken, das Vorbeifahren an einem oder bloss wenigen Fahrzeugen und das anschliessende Wiedereinbiegen in einem Zuge erfolgten»[11]. Dies ist beispielweise dann der Fall, wenn ein Fahrzeuglenker die Lücken in den parallelen Kolonnen so ausnützt, dass er, nur um zu überholen, kurz auf der rechten Fahrbahn fährt und gleich wieder nach links einbiegt.[12]

Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass ein Rechtsvorbeifahren und ein Wiedereinbiegen auf die linke Überholspur zulässig sind, wenn die beiden Tätig-keiten nicht als ein einziger Vorgang zu beurteilen sind. Es kann ja nicht sein, dass man im obgenannten Fall hinter dem Car warten muss, bis einen das langsam fahrende Fahrzeug und die diesem folgende Kolonne überholt haben.

Ausblick

Am 18. September 2017 reichte der FDP-Nationalrat Thierry Burkart (AG) eine Motion ein, in welcher er fordert, dass der Bundesrat beauftragt werden soll, Art. 36 Abs. 5 VRV so anzupassen, dass das Rechtsvorbeifahren auf Autobahnen und Autostrassen generell zugelassen ist. Nationalrat und Stände-rat nahmen die Motion an.13 Ist dies nun der Durchbruch für das Rechtsüberholen? Ändert sich etwas Grundlegendes?

Nein. Burkart beabsichtigt, bloss das Rechtsvorbeifahren auf der Autobahn in der Verkehrsregelnverordnung für zulässig zu erklären, nicht aber das Rechtsüberholen zu erlauben. Eine solche Anpassung der Verkehrsregelnverordnung ändert an der heutigen Lage nichts, ist es doch gemäss Bundes-gericht bereits heute erlaubt, rechts vorbeizufahren. Eine Anpassung der Gesetzgebung wäre somit nicht notwendig. Ziel von Burkart und Parlament ist es aber, Klarheit und Rechtssicherheit zu schaffen, sprich das erlaubte Rechtsvorbeifahren auf der Autobahn in der VRV zu verankern und (wohl) eine klarere Abgrenzung zwischen dem zulässigen Rechtsvorbeifahren und dem unzulässigen Rechtsüberholen vorzunehmen. Der Bundesrat erarbeitet zurzeit die Änderung der Verkehrsregelnverordnung. Er kann die Änderungen ohne Genehmigung des Parlaments vornehmen.

Kritik

Nach dem Bundesgerichtsentscheid aus dem Jahr 2016 und auch nach den geplanten Änderungen von Art. 36 VRV durch den Bundesrat bleiben Abgrenzungsschwierigkeiten bestehen. Meines Erachtens wäre die einzige sinnvolle und sichere Lösung, das Rechtsüberholverbot aufzuheben. Das Rechtsüberholen (wie auch das Rechtsvorbeifahren) sind nur dann gefährlich, wenn damit nicht gerechnet wird. Würde das Rechtsüberholen als zulässig eingeführt und entsprechend darauf aufmerksam gemacht, würde dies sowohl dem Verkehrsfluss wie auch der Verkehrssicherheit dienen. Denn jeder Fahrzeugführer – unabhängig davon, auf welchem Fahrstreifen er sich befindet – ist verpflichtet, den Spurwechsel anzuzeigen, auf die ihm nach-folgenden Fahrzeuge Rücksicht zu nehmen und den Spurwechsel nur unter Einhaltung des erforderlichen Sicherheitsabstandes vorzunehmen. Dies gilt auch für den Fahrzeugführer, welcher überholt wird.

Die heutige undurchsichtige Regelung mit der Abgrenzung zwischen dem (zulässigen) Rechtsvorbeifahren und (verbotenen) Rechtsüberholen ist äusserst schwierig, es besteht eine grosse Unsicherheit. Zudem spielt es für die Gefährlichkeit resp. die Verkehrssicherheit keine Rolle, ob ein Fahrzeug bloss rechts vorbeifährt oder überholt. Der minimale Unterschied, dass beim Rechtsüberholen im Gegensatz zum Rechtsvorbeifahren in einem Zug ausgeschwenkt, vorbeigefahren und wieder eingebogen wird, macht in der Praxis keinen Unterschied: Ein Fahrzeug fährt an einem anderen rechts vorbei. Es würde der Verkehrssicherheit und dem Verkehrsfluss mehr dienen, wenn das Rechtsüberholen erlaubt würde. So wüsste jeder  Verkehrs-teilnehmer, dass mit Fahrzeugen auf der rechten Spur gerechnet werden muss, welche einen überholen oder an einem vorbeifahren.

Fazit

Das Rechtsüberholen ist weiterhin unzulässig. Im Einzelfall ist das Rechtsvorbeifahren zulässig, wenn die Fahrzeuge auf der Überholspur faktisch nicht mehr schneller vorankommen als diejenigen auf der Normalspur. Ausschwenken, Vorbeifahren und anschliessend Wiedereinbiegen ist nur dann zulässig, wenn diese Aktionen nicht in einem Zug, sondern für sich allein als einzelne Vorgänge erfolgen.

Fussnoten

  1. Vgl. Art. 8 der Verkehrsregelnverordnung (VRV).

  2. Vgl. Art. 10 Abs. 2 VRV.

  3. Vgl. Ziff. 314.1 des Anhangs 1 zur Ordnungsbussenverordnung OBV.

  4. Vgl. Ziff. 314.2, Anhang 1, OBV und Art. 35 Abs. 1 SVG.

  5. Vgl. Art. 8 Abs. 3 VRV.

  6. Vgl. Art. 36 Abs. 5 lit. a. VRV.

  7. Vgl. z. B. BGE 124 IV 219 E.3a.

  8. Vgl. BGE 142 IV 93.

  9. Vgl. Art. 44 Abs. 1 SVG.

  10. Vgl. BGE 126 IV 192 E.2.a.

  11. BGE 126 IV 192 E.2.a. (Hervorhebung durch den Autor).

  12. Vgl. BGE 115 IV 244 E.3.b., BGE 126 IV 192 E.2.a, Urteil 6B_1423/2017 des BGer
    vom 9. Mai 2018, E.2.1.2.

  13. Die Motion 17.3666 wurde am 27. Februar 2018 vom Nationalrat mit 145 zu 37 Stimmen
    (9 Enthaltungen) und am 13. Juni 2018 vom Ständerat mit 30 zu 8 Stimmen
    (1 Enthaltung) angenommen (vgl. Amtliches Bulletin 2018 N 60 f. und Amtliches Bulletin 2018 S 554 ff.).

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