Vereinfachte Einführung von Tempo-30-Zonen
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Öffentliches Recht

Vereinfachte Einführung von Tempo-30-Zonen

Am 18. September 2020 erliess das Tiefbauamt Oberingenieurkreis II eine Verkehrsbeschränkung mit folgendem Inhalt:

"Zonensignalisation

Höchstgeschwindigkeit 30 km/h

Kantonsstrasse Nr. 1224 Bahnhofstrasse / Hohlestrasse

  • Dorfstrasse, ab Kreisel Kantonsstrasse Nr. 221.2 Rubigenstrasse bis Verzweigung Bahnhofstrasse-Dorfstrasse
  •  Bahnhofstrasse, ab Verzweigung Bahnhofstrasse - Dorfstrasse bis Verzweigung Hohlestrasse - Belpbergstrasse - Gürbeweg
  • Hohlestrasse, ab Verzweigung Bahnhofstrasse - Belpbergstrasse - Gürbeweg bis Verzweigung Kantonsstrasse Nr. 221 Seftigenstrasse

Grund der Massnahme: Erhöhung der Verkehrssicherheit für den Langsamverkehr und für die Anwohner der Hohlestrasse. Verbesserung der Lärmsituation und des Verkehrsablaufs. Der Artikel 108 Absatz 2 der Signalisationsverordnung SSV vom 5.7.1979 ist erfüllt. "

Das Tiefbauamt Oberingenieurkreis II liess die Verfügung am 23. September 2020 im Amtsblatt des Kantons Bern und am 24. September 2020 im Anzeiger des betreffenden Amtsbezirks publizieren[1].

Derartige Publikationen erfolgen nicht selten. Indem der Bundesrat beschloss, dass die Behörden seit 1. Januar 2023 neu Tempo-30-Zonen auf nicht verkehrsorientierten Strassen auch ohne vorgängiges Gutachten einrichten dürfen, vereinfachte er deren Einführung erheblich. Der nachfolgende Artikel verschafft einen Überblick über die seit dem 1. Januar 2023 vereinfachte Einführung von Tempo-30-Zonen:

Innerorts hat der Bundesrat, wie allgemein bekannt sein dürfte, die allgemeine Höchstgeschwindigkeit für Motorfahrzeuge auf 50 km/h festgelegt (Art. 32 Abs. 2 des Strassenverkehrsgesetzes vom 19. Dezember 1958[2]i.V.m. Art. 4a Abs. 1 lit. a des Verkehrs-regelverordnung vom 13. November 1962[3]). Grundsätzlich kann die vom Bundesrat festgesetzte Höchstgeschwindigkeit für bestimmte Strassenstrecken von der zuständigen Behörde nur aufgrund eines Gutachtens herab- oder heraufgesetzt werden, wobei der Bundesrat Ausnahmen vorsehen kann (Art. 32 Abs. 3 SVG). Von seinem Recht Ausnahmen vorzusehen, machte der Bundesrat per 1. Januar 2023 betreffend die Einführung von neuen Tempo-30-Zonen Gebrauch.

Bis zum 1. Januar 2023 war die Herabsetzung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit nach Art. 108 Abs. 2 SSV stets nur dann zulässig, wenn eine Gefahr nur schwer oder nicht rechtzeitig erkennbar und anders nicht zu beheben ist (lit. a), wenn bestimmte Strassenbenützer eines besonderen, nicht anders zu erreichenden Schutzes bedürfen (lit. b), wenn auf Strecken mit grosser Verkehrsbelastung der Verkehrsablauf verbessert werden kann (lit. c) oder wenn dadurch eine im Sinne der Umweltschutz-gesetzgebung übermässige Umweltbelastung (Lärm, Schadstoffe) vermindert werden kann, wobei der Grundsatz der Verhältnis-mässigkeit zu wahren ist (lit. d). Voraussetzung dafür, dass eine abweichende Höchstgeschwindigkeit, das heisst etwa eine Tempo-30-Zone festgelegt werden durfte, war dass durch ein Gutachten abgeklärt wurde, ob die Massnahme nötig, zweck- und verhältnismässig ist oder ob andere Massnahmen vorzuziehen sind (Art. 32 Abs. 3 SVG i.V.m. Art. 108 Abs. 4 Satz 1 aSSV). Bis Ende Jahr 2022 wurde in Art. 3 der Verordnung des Eidgenössischen Departements für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation UVEK vom 28. September 2001 über die Tempo-30-Zonen und die Begegnungszonen[4] der erforderliche Inhalt des Gutachtens näher präzisiert.

Per 1. Januar 2023 wurde die Einführung von neuen Tempo-30-Zonen massiv vereinfacht. So muss gemäss Art. 108 Abs. 4bis SSV seit dem 1. Januar 2023 kein Gutachten mehr erstellt werden, um auf nicht verkehrsorientierten Strassen Tempo-30-Zonen anzuordnen.

Was verkehrsorientierte Strasse sind, wird im neuen Art. 1 Abs. 9 SSV definiert. Sie umfassen alle Strassen innerorts, die primär auf die Anforderungen des Motorfahrzeugverkehrs ausgerichtet und für eine effiziente Verkehrsabwicklung bestimmt sind, indem sie sichere, leistungsfähige und wirtschaftliche Transporte ermöglichen.

Mit dem Wegfall der bundesrechtlichen Gutachtenspflicht für die Anordnung von Tempo-30-Zonen auf siedlungsorientierten Strassen wird der Entscheidbehörde bei der Beurteilung der Erforderlichkeit der Massnahme ein weiter Ermessensspielraum eingeräumt. Die materielle Zulässigkeit der Anordnung einer Tempo-30-Zone beurteilt sich nun primär über die Voraussetzung der Verhältnismässigkeit. Neu können Tempo-30-Zonen auf Siedlungsstrassen immer dann angeordnet werden, wenn dies aus beliebigen in den örtlichen Verhältnissen liegenden Gründen erforderlich ist. Die Beurteilung der Erforderlichkeit einer Massnahme liegt im Ermessen der Behörde[5]. So können Tempo-30-Zonen neu auch einzig zur Erhöhung der Lebensqualität eingeführt werden[6].

Immerhin muss die Neueinführung einer Tempo-30-Zone weiterhin verfügt[7] und gemäss den in Art. 107 SSV umschriebenen Vorschriften publiziert werden. Gegen eine solche Verfügung kann jeder Verkehrsteilnehmer, der eine mit der Geschwindigkeitsbeschränkung belegte Strasse mehr oder weniger regelmässig benützet, wie das bei Anwohnerinnen und Anwohnern oder Pendlerinnen oder Pendlern der Fall ist[8], innert 30 Tagen[9] Beschwerde erheben. Im Fall der Betroffenheit einer Kantonsstrasse bei der Bau- und Verkehrsdirektion (BVD)[10]. Im Fall der Betroffenheit einer Gemeindestrasse beim zuständigen Regierungsstatthalteramt [11].

Fussnoten

  1. Vgl. Entscheid BVD 140/2020/18, I./1. vom 10. Februar 2021.

  2. SVG; SR 741.01.

  3. VRV; SR 741.11.

  4. SR 741.213.3.

  5. Vgl. Erläuterungen zur Vorlage Teilrevision der Signalisationsverordnung, Vereinfachung der Einführung von Tempo-30-Zonen, S. 2/3 f.

  6. Vgl. Medienmitteilung des Bundesrats vom 24. August 2022 "Die Einführung von Tempo-30-Zonen erleichtern und Fahrgemeinschaften fördern". 

  7. Vgl. Art. 42 Abs. 3 der Strassenverordnung (SV); BSG 732.111.1.

  8. Vgl. Entscheid BVD 140/2020/5 vom 27. Juli 2020, E. 1 c. 

  9. Vgl. Art. 92 Abs. 1 des Strassengesetzes vom 4. Juni 2008 (SG); BSG 732.11, i.V.m. Art 67 des Gesetzes über die Verwaltungsrechtspflege vom 23. Mai 1989 (VRPG); BSG 155.21.

  10. Art. 92 Abs. 1 SG i.V.m. Art. 62 Abs. 1 lit. a VRPG.

  11. Art. 92 Abs. 1 SG i.V.m. Art. 63 Abs. 1 lit. a VRPG.

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