Fahrzeuglenker auf Radarfoto nicht erkennbar - Was...
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Strafrecht

Fahrzeuglenker auf Radarfoto nicht erkennbar - Was nun?

Ein Poolfahrzeug der Firma XY wurde während einer Dienstfahrt aufgrund einer Geschwindigkeits-übertretung im Ordnungsbussenbereich geblitzt. Die Schlüsselübergabe erfolgte an Herrn A, der zusammen mit der Mitarbeiterin Frau B die Geschäftsreise antrat. Da während der mehrstündigen Fahrt ein Lenkerwechsel stattfand und die Geschwindigkeitsübertretung wohl kurz davor oder danach begangen wurde, weisen nun beide Parteien die Schuld von sich. Was passiert nun?

Nicht selten ist bei Regelverletzungen im Strassenverkehr, wie etwa bei der hiervor beschriebenen, der Polizei nicht bekannt, wer das betreffende Fahrzeug gelenkt hat. Dies ist darauf zurückzuführen, dass viele Radargeräte über eine schlechte Auflösung verfügen und der Fahrer folglich nicht unmittelbar identifiziert werden kann. Wenn der Lenkende nicht bekannt ist, senden die Behörden dem Fahrzeug-halter in der Regel ein Fragebogen zu, in welchem dieser anzugeben hat, wer das Fahrzeug im fraglichen Zeitpunkt gelenkt hat. Wie anschliessend vorzugehen ist, wenn das Formular nicht ausgefüllt wird bzw. nicht mitgeteilt wird, wer im interessierenden Zeitpunkt das Fahrzeug gelenkt hat, hängt davon ab, ob das sog. Ordnungsbussenverfahren anwendbar ist oder nicht.

Unbekannter Fahrzeuglenker im Ordnungsbussenverfahren?

Übertretungen der Strassenverkehrsvorschriften des Bundes, wie beispielsweise Überschreitungen der maximal zulässigen Geschwindigkeit, können nach dem Ordnungsbussengesetz vom 24. Juni 1970[1] in einem vereinfachten Verfahren mit Ordnungsbussen bis zu Fr. 300.- geahndet werden (sog. Ordnungsbussenverfahren; Art. 1 Abs. 1 und 2 OBG). Beim Ordnungsbussenverfahren handelt es sich um ein formalisiertes und rasches Verfahren, das schematisch für die gleichen Verstösse für alle schuldhaft handelnden Täter die gleichen Bussen und Vollzugsmodalitäten vorsieht[2]. Es dient der raschen und definitiven Erledigung der im Strassenverkehr massenhaft vorkommenden Übertretungen mit Bagatellcharakter mit möglichst geringem Verwaltungsaufwand[3]. Auch das nach dem Ordnungs-bussengesetz abgewickelte Sonderverfahren für die in Anhang 1 der Ordnungsbussen-verordnung vom 16. Januar 2019[4] abschliessend umschriebenen Verkehrsübertretungen bleibt aber ein Straf-verfahren. Mit Inkrafttreten des Ordnungsbussengesetzes und der dazugehörigen Verordnung wurden die Behörden lediglich davon befreit, bei jeder Parkzeitüberschreitung und anderen geringfügigen Übertretung ein ordentliches Strafverfahren einzuleiten. An der Natur des Verfahrens hat sich dadurch nichts geändert[5].

Ist nicht bekannt, wer eine Widerhandlung gegen die Strassenverkehrsvorschriften begangen hat, so wird die Busse dem im Fahrzeugausweis eingetragenen Fahrzeughalter auferlegt (Art. 7 Abs. 1 OBG). Dem Fahrzeughalter wird die Busse schriftlich eröffnet. Er kann sie innert 30 Tagen bezahlen (Art. 7 Abs. 2 OBG). Bezahlt er die Busse nicht fristgerecht, so wird das ordentliche Strafverfahren eingeleitet (7 Abs. 3 OBG). Ein ordentliches Strafverfahren dauert erheblich länger und ist für den Beschuldigten mit grösserem Aufwand verbunden als ein Ordnungsbussenverfahren. Nennt der Fahrzeughalter Name und Adresse des Fahrzeugführers bzw. gibt diese Daten im entsprechenden, ihm durch die Behörden zugestellten Formular an, wird die Busse dem nun bekannten Fahrzeugführer auferlegt (Art. 7 Abs. 4 OBG). Kann hingegen mit verhältnismässigem Aufwand nicht festgestellt werden, wer der Fahrzeug-führer ist bzw. kann der Fahrzeughalter dazu keine Hinweise liefern, wodurch Rückschluss auf diesen gezogen werden könnte, so ist die Busse vom Fahrzeughalter zu bezahlen, es sei denn, er macht im ordentlichen Strafverfahren glaubhaft, dass das Fahrzeug gegen seinen Willen benutzt wurde und er dies trotz entsprechender Sorgfalt nicht verhindern konnte (Art. 7 Abs. 5 OBG), was in der Praxis aus beweistechnischen Gründen mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden ist. Diese Auffanghaftung des Fahrzeughalters bezeichnet man als sog. Halterhaftung. Mit anderen Worten dürfen die Behörden im Rahmen des Ordnungsbussenverfahrens demnach im Zweifel davon ausgehen, dass der Fahrzeughalter selber gefahren ist und demnach auch gebüsst werden darf.

Zu beachten ist, dass die Halterhaftung auch dann greift, wenn die betreffende Busse unter den Geltungsbereich des OBG fällt, jedoch ein Wechsel in das ordentliche Strafverfahren erfolgt, etwa weil die Busse nicht fristgerecht bezahlt wird[6].

Manch einer wird sich die Frage stellen, ob diese verschuldensunabhängige Halterhaftung mit der sog. Unschuldsvermutung, welche in Art. 32 Abs. 1 der Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft[7] und Art. 6 Ziff. 2 der Europäischen Menschenrechtskonvention[8] verankert ist, welche besagt, dass jede Person bis zu ihrer rechtskräftigen Verurteilung als unschuldig gilt und die Regel statuiert, dass die Strafverfolgungsbehörden dem Beschuldigten seine Täterschaft nachzuweisen haben und nicht er seine Unschuld zu beweisen hat, vereinbar ist. Das Bundesgericht gelangte bereits mehrfach zum Schluss, dass die Halterhaftung diese Vermutung nicht verletze. Begründet wird dies damit, dass sich für Halter und Lenker von Motorfahrzeugen aus ihrer Akzeptanz der Strassenverkehrs-gesetzgebung sowie der Fahrberechtigung gewisse Obliegenheiten ergeben würden. Darunter würden neben Verhaltenspflichten vielfältige Auskunftspflichten gegenüber den Behörden fallen. Weigere sich der Fahrzeughalter oder -lenker, könne er dazu nicht gezwungen werden. Er müsse aber trotzdem die Konsequenzen tragen. Verzichte ein Betroffener auf jegliche Mitwirkung, vergebe er sich die Möglichkeit, auf das Verfahren einzuwirken und seine Interessen aktiv wahrzunehmen. Dies könne aber die Behörden nicht an ihrer gesetzlichen Aufgabe hindern, den Sachverhalt abzuklären und gesetzmässig in einem fairen Verfahren zu entscheiden. Zu prüfen sei dann insoweit nur noch, ob sie wirksame Verteidigungsmöglichkeiten gewährt und die Beweismittel gesetzmässig verwendet hätten[9].

Bisher nicht unter die Halterhaftung fielen Unternehmen als juristische Personen. Dies begründete das Bundesgericht damit, dass juristische Personen nach gefestigter bundesgerichtlicher Rechtsprechung nicht deliktfähig sind, sofern nicht ein Bundesgesetz oder kantonales Recht dies ausdrücklich vorsehen, was das OBG bisher nicht tut, da es eine Verantwortlichkeit von Unternehmen für Übertretungsbussen nicht ausdrücklich vorsieht[10]. Dies wird sich jedoch bald ändern. So hat der Bundesrat an seiner Sitzung vom 16. August 2023 das erste Paket der beschlossenen Anpassungen des Strassenverkehrs-gesetzes in Kraft gesetzt, womit die Änderungen per 1. Oktober 2023 in Kraft treten. Bestandteil davon ist, dass die Halterhaftung neu nicht nur für natürliche, sondern auch für juristische Personen gilt. Somit kann die Polizei die Ordnungsbusse zukünftig auch Unternehmen in Rechnung stellen, wenn diese der Polizei nicht mitteilen, wer zu einem bestimmten Zeitpunkt das unternehmenseigene Fahrzeug gelenkt hat[11].

Unbekannter Fahrzeuglenker ausserhalb des Ordnungsbussenverfahrens?

Kann die vorgeworfene Verkehrsregelverletzung nicht im Ordnungsbussenverfahren erledigt werden, wird stets ein ordentliches Strafverfahren durchgeführt. Sind die Voraussetzungen des Ordnungs-bussenverfahrens jedoch erfüllt, ist dieses obligatorisch anzuwenden[12]. Im ordentlichen Straf-verfahren darf die Halterhaftung nicht angewendet werden und es gilt der sog. Grundsatz "in dubio pro reo", das heisst, "im Zweifel für den Angeklagten". 

Als Beweiswürdigungsregel besagt der Grundsatz "im Zweifel für den Angeklagten", dass sich das Strafgericht nicht von der Existenz eines für die beschuldigte Person ungünstigen Sachverhalts überzeugt erklären darf, wenn bei objektiver Betrachtung erhebliche und nicht zu unterdrückende Zweifel bestehen, ob sich der Sachverhalt so verwirklicht hat. Der Grundsatz ist verletzt, wenn das Gericht jemanden schuldig spricht, obwohl es an der Schuld hätte zweifeln müssen[13]. Bestehen solche Zweifel, hat ein Freispruch zu erfolgen. 

Im Rahmen eines ordentlichen Strafverfahrens wird die Polizei und die Staatsanwaltschaft Beweis-mittel wie Fotos und Videos usw. prüfen sowie Befragungen durchführen, damit sich die Straf-verfolgungsbehörden ein Bild der Angelegenheit machen können. Unscharfe Fotos können dabei gegebenenfalls mit technischen Mitteln verbessert werden. Den Familienmitgliedern steht es in der Regel zu, sich aufgrund der persönlichen Beziehung zur betroffenen Person auf ihr Zeugnisverweigerungsrecht zu berufen[14].

Ohne entsprechende stichhaltige Beweise darf die Staatsanwaltschaft bei einem unbekanntem Fahrzeuglenker nicht einfach den Fahrzeughalter wegen Verkehrsregelverletzung, wie bei der Halterhaftung, verurteilen und ihm die Busse auferlegen, da wie dargelegt die Unschuldsvermutung gilt und deshalb im Zweifelsfall ein Freispruch zu erfolgen hat. Bei Unzukömmlichkeiten kann ein Strafbefehl innert 10 Tagen mittels Einsprache angefochten werden[15].

Fazit

In Hinblick auf den eingangs geschilderten Fall kann im Ergebnis festgehalten werden, dass die betreffende den Mitarbeitenden A und B bzw. der Firma XY vorgeworfene Verkehrsregelverletzung im Ordnungsbussenverfahren erledigt werden kann. Gelingt es der Firma XY nicht, die Person, welche die Widerhandlung begangen hat, zu bezeichnen, wird ab 1. Oktober 2023 die Firma XY als Unternehmen zur Rechenschaft gezogen und ist aufgrund der sog. Halterhaftung verpflichtet, die Busse zu bezahlen. Dem kann dieses einzig entgegenwirken, wenn es ihm im ordentlichen Strafverfahren gelingt, glaubhaft zu machen, dass das Fahrzeug gegen ihren Willen benutzt wurde und dies trotz entsprechender Sorgfalt nicht verhindert werden konnte, wobei mehr als fraglich ist, ob sich dieser Aufwand für das Unternehmen lohnt.

Fussnoten

  1. OBG; SR 741.03.

  2. BGE 135 IV 221, 223, E. 2.2.

  3. A.a.O.

  4. OBV, SR 314.11.

  5. BGE 145 IV 252, 255, E. 1.5.

  6. BGer 6B_722/2019 vom 23. Januar 2020, E. 1.4.

  7. BV, SR 101.

  8. EMRK, SR 0.101.

  9. BGer 6B_439/2010 vom 29. Juni 2010, E. 5.3 und 5.6.

  10. BGer 6B_252/2017 vom 20. Juni 2018, E. 3.1.1 ff.

  11. Revision des Strassenverkehrsgesetzes: Bundesrat setzt erste Massnahmen in Kraft (admin.ch).

  12. BGer 6B_722/2019 vom 23. Januar 2019, E. 1.3.1.

  13. BGer 6B_212/2019 vom 15. Mai 2019, E. 1.3.2.

  14. Art. 168 StPO.

  15. Art. 354 Abs. 1 StPO.

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