Verkehrsunfall - Was muss ich tun?
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Strafrecht

Verkehrsunfall - Was muss ich tun?

Die fünfköpfige Familie A plante im Juli 2022 mit ihrem privaten Personenwagen ins Berner Oberland in die Ferien zu fahren. Vollbepackt trat die Familie A ihre Reise an. Kaum auf die Autobahn aufgefahren, stiessen sie mit einem ihnen auf der falschen Seite entgegenkommenden Lieferwagen zusammen. Dabei wurde Frau A leicht verletzt. An den am Unfall beteiligten Motorfahrzeugen entstand erheblicher Sachschaden.

I.     Gesetzliche Verhaltenspflichten

Art. 51 Abs. 1 des Strassenverkehrsgesetzes[1] (hiernach: SVG) lässt sich entnehmen, ereignet sich ein Unfall, an dem ein Motorfahrzeug oder Fahrrad beteiligt ist, so müssen alle Beteiligten sofort anhalten. Sie haben nach Möglichkeit für die Sicherung des Verkehrs zu sorgen. Sind Personen verletzt, so haben gemäss Art. 51 Abs. 2 SVG alle Beteiligten für Hilfe zu sorgen; Unbeteiligte soweit es ihnen zumutbar ist. Ist Sachschaden entstanden, ist der Schädiger gemäss Art. 51 Abs. 3 SVG verpflichtet, sofort den Geschädigten zu benachrichtigen und die Kontaktangaben diesem mitzuteilen oder gegebenenfalls unverzüglich die Polizei zu verständigen.

Entstehen durch Unfälle, Fahrzeugpannen, herabgefallene Ladungen, ausgeflossenes Öl usw. Verkehrshindernisse oder andere Gefahren so müssen gemäss Art. 54 Abs. 1 der Verkehrsregelverordnung[2] (hiernach: VRV) die Beteiligten, namentlich auch Mitfahrende sofort Sicherheitsmassnahmen treffen. Gemäss Art. 54 Abs. 2 VRV ist die Polizei sofort zu benachrichtigen, wenn eine Gefahr nicht unverzüglich beseitigt werden kann, namentlich auch, wenn ausfliessende Flüssigkeiten offene Gewässer oder Grundwasser verunreinigen könnten. Gemäss Art. 56 Abs. 1 VRV darf die Lage an der Unfallstelle bis zum Eintreffen der Polizei nur verändert werden zum Schutz von Verletzten oder zur Sicherung des Verkehrs. Die ursprüngliche Lage soll vorher auf der Strasse angezeichnet werden. Wobei diese Pflicht sich grundsätzlich einzig auf Personenschäden und die damit verbundene, gesetzlich vorgesehene Verpflichtung, die Polizei beizuziehen, bezieht[3]. Diese Pflicht ist sodann auch zu beachten, wenn ein Geschädigter die Polizei beiziehen will, obwohl keine Meldepflicht besteht. Die übrigen Beteiligten haben sodann gemäss Art. 56 Abs. 2 VRV bei der Feststellung des Sachverhalts mitzuwirken, bis sie von der Polizei entlassen werden. Erfährt ein Fahrzeugführer erst nachträglich, dass er an einem Unfall beteiligt war oder beteiligt sein konnte, so hat er gemäss Art. 56 Abs. 4 VRV unverzüglich zur Unfallstelle zurückzukehren oder sich beim nächsten Polizeiposten zu melden.

Zur Sicherung der Unfallstelle gehören in erster Linie Verkehrssicherungsmassnahmen wie das vorschriftsgemässe Anbringen des Pannensignals, das Einstellen der Warnblinker oder die Verkehrsregelung durch Handzeichen (Art. 66 i.V.m. Art. 67 Abs. 2 der Signalisationsverordnung[4]).

II.     Besondere Verhaltenspflichten bei Personenschäden

Alle Beteiligten haben für Hilfe zu sorgen, wenn Personen verletzt sind, Unbeteiligte, soweit es ihnen zumutbar ist (Art. 51 Abs. 2 SVG). Weist jemand äussere Verletzungen auf oder ist mit inneren Verletzungen zu rechnen, ist die Polizei sofort zu benachrichtigen (Art. 51 Abs. 2 SVG, Art. 55 Abs. 1 VRV). Nicht erforderlich ist die Meldung an die Polizei hingegen bei kleinen Schürfungen oder Prellungen; der Schädiger muss aber dem Verletzten Namen und Adresse angeben. Die Polizei muss sodann auch nicht beigezogen werden, wenn nur der Fahrzeugführer, seine Angehörigen oder Familiengenossen geringfügig verletzt wurden und keine Drittpersonen am Unfall beteiligt sind (Art. 55 Abs. 2 VRV). Muss die Polizei benachrichtigt werden, haben in erster Linie die Fahrzeugführer die Polizei zu benachrichtigen. Alle Beteiligten, namentlich auch Mitfahrende, haben bei der Feststellung des Tatbestandes mitzuwirken. Ohne Zustimmung der Polizei dürfen sie die Unfallstelle nur verlassen, soweit sie selbst Hilfe benötigen, oder um Hilfe oder die Polizei herbeizurufen (Art. 51 Abs. 2 SVG). Nur weil das in Art. 51 SVG festgelegte allgemeine Erfordernis der Polizeibenachrichtigung bei Unfällen mit leichten  Personenschäden im Sinne von Art. 55 Abs. 2 VRV entfällt, darf nicht davon ausgegangen werden, solche kleinen Verletzungen machten keine Hilfe erforderlich und eine Führerflucht sei nicht möglich. Da Kollisionen zwischen einem Fahrzeug und einem Fussgänger oft schwere, nicht immer sichtbare Folgen nach sich ziehen, soll der Verletzer in jedem Fall nach dem Verunfallten sehen und auch bei harmlos scheinenden Verletzungen genau abklären, ob der Verletzte nicht noch grössere Schäden erlitten hat[5]. Das Gesetz präzisiert nicht, was unter geringfügigen Verletzungen i.S.v. Art. 55 Abs. 2 VRV zu verstehen ist. Erfährt der Fahrzeugführer nachträglich, dass die Verletzungen des Opfers über kleine Schürfungen oder Prellungen hinausgingen, muss er sich bei der Polizei melden (Art. 56 Abs. 4 VRV).

In Hinblick auf die Verletzung von Frau A bedeutet dies, dass es genau abzuklären gilt, ob sie tatsächlich lediglich leichte Verletzungen, das heisst kleine Schürfungen oder Prellungen, erlitten hat oder ob dies im ersten Moment nur so wirkt. Hat sie tatsächlich nur harmlose Verletzungen erlitten, kann auf ein Herbeirufen der Polizei verzichtet werden. Im Zweifel sollte sie jedoch besser herbeigerufen werden. Wird sie nicht herbeigerufen, sollte der Schädiger Frau A jedoch auf jeden Fall seinen Namen und seine Adresse angeben. Zudem hat er Hilfe zu leisten, soweit dies ihm zumutbar ist, ansonsten er sich der Fahrerflucht strafbar machen könnte. Sodann hat er sofern auf ein Herbeirufen der Polizei verzichtet wird und er nachträglich erfährt, dass die Verletzungen von Frau A über kleine Schürfungen oder Prellungen hinausgingen, sich bei der Polizei zu melden.

III.     Besondere Verhaltenspflichten bei Sachschäden

Ist nur Sachschaden entstanden, so hat der Schädiger gemäss Art. 51 Abs. 3 SVG sofort den Geschädigten zu benachrichtigen und Namen und Adresse anzugeben. Unzulässig ist es insbesondere nach einem nächtlichen Unfall mit der Benachrichtigung des Geschädigten bis am darauffolgenden Morgen zuzuwarten[6]. Der Schädiger muss den Geschädigten über den Unfall sowie die Art und Umfang des entstandenen Schadens in Kenntnis setzen[7]. Die Benachrichtigung hat grundsätzlich mündlich zu ergehen. Die Hinterlegung einer Visitenkarte oder das Anbringen eines Zettels unter Angabe von Namen, Adresse und Telefonnummer auf der Windschutzscheibe des beschädigten Fahrzeugs oder dem Briefkasten genügt nicht, da ungewiss ist, ob der Geschädigte überhaupt und gegebenenfalls in welchem Zeitpunkt er vom Inhalt der Nachricht Kenntnis erhält[8]. Der Schädiger hat die Meldung gemäss Art. 51 Abs. 3 SVG auch dann vorzunehmen, wenn der Geschädigte beim Unfall anwesend ist und den Schaden kennt. Er hat ihm seine Personalien mitzuteilen, damit dem Geschädigten Nachforschungen nach dem Namen und dem Wohnsitz des Schädigers erspart bleiben[9]. Ist die Benachrichtigung des Geschädigten nicht möglich, hat er gemäss Art. 51 Abs. 3 SVG unverzüglich die Polizei zu verständigen. Wie ist vorzugehen, wenn aufgrund der Geringfügigkeit unklar ist, ob tatsächlich ein Sachschaden entstanden ist oder nicht? Der Schädiger darf nicht eigenmächtig entscheiden, es sei niemand zu Schaden gekommen, obwohl sich weitere Abklärungen aufdrängen. Die Meldepflicht gemäss Art. 51 Abs. 3 SVG entfällt nur, wenn zweifelsfrei ausgeschlossen werden kann, dass ein Sachschaden eingetreten ist. Nicht entscheidend ist die Höhe des Schadens[10].

Grundsätzlich genügt es folglich bei einem Sachschaden, wenn sofort eine gehörige Benachrichtigung des Geschädigten erfolgt. Aufgrund der vorliegenden Erheblichkeit des Sachschadens im Fall der Familie A ist es empfehlenswert, auf den Beizug der Polizei zu bestehen. Die Lage an der Unfallstelle darf dann bis zum Eintreffen der Polizei nur zum Schutz der verletzten Frau A oder zur Sicherung des Verkehrs verändert werden. Die ursprüngliche Lage gilt es vorher auf der Strasse anzuzeichnen. Sobald die Polizei vor Ort ist, wird sie den Tatbestand aufnehmen.

IV.     Wann ist ein sog. Europäisches Unfallprotokoll (EUP) auszufüllen?

Bei sog. Bagatellfällen besteht die Möglichkeit, dass die involvierten Parteien selbständig ein sog. Europäisches Unfallprotokoll (EUP) ausfüllen. Dafür müssen folgende Punkte gegeben sein: Niemand ist verletzt. Die involvierten Parteien haben angehalten und befinden sich vor Ort. Die Parteien sind sich über den Sachverhalt einig. Es bestehen keine Verkehrshindernisse oder andere Gefahren wie z.B. Gewässerverschmutzung. Das Europäische Unfallprotokoll wird von den Motorfahrzeugversichern in der Regel kostenlos abgegeben. Es ist unmissverständlich auszufüllen. Dazu gehört eine Skizze der Unfallsituation sowie Name und Adresse von Zeugen. Fotos vom Unfall werden empfohlen. Das Protokoll muss von den am Unfall Beteiligten unterzeichnet werden. Mit dieser Unterschrift wird kein Verschulden anerkannt, sondern lediglich die Richtigkeit der im Unfallprotokoll aufgezeichneten oder angekreuzten Tatsachen. Die Gegenpartei enthält das mitunterzeichnete Doppel[11]. Äussern sich bei einem Sachschaden ohne Personenschaden beide Parteien übereinstimmend vor Ort, die Polizei aufgrund der Geringfügigkeit des entstandenen Schadens nicht beiziehen zu wollen, ist zwingend ein solches Europäisches Unfallprotokoll auszufüllen, denn nur mit ausgefülltem Unfallprotokoll können die involvierten Halter auch nachträglich noch den Unfall und dessen Hergang gegenüber den (Gegen-)Versicherungen dokumentieren. 

V.      Rechtliche Konsequenzen bei Nichtbeachtung der Verhaltenspflichten

 a.     Strafrechtliche Konsequenzen

Gemäss Art. 92 Abs. 1 SVG wird mit Busse bestraft, wer bei einem Unfall seine ihm obliegenden Verhaltenspflichten verletzt. Mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe wird gemäss Art. 92 Abs. 2 SVG bestraft, wer als Fahrzeugführer bei einem Verkehrsunfall einen Menschen getötet oder verletzt hat und die Flucht ergreift, das heisst sich der Fahrerflucht strafbar macht.

b.     Administrativmassnahmen

Als Administrativmassnahmen bei der Verletzung von Verhaltenspflichten bei Verkehrsunfällen drohen eine Verwarnung oder ein Entzug des Führerausweises (Art. 16 ff. SVG).

c.     Zivilrechtliche Konsequenzen

Eine Missachtung der Verhaltenspflichten kann gestützt auf die ausservertragliche Haftung gemäss Art. 41 des Schweizerischen Obligationenrechte (OR, SR 220) Schadenersatzansprüche zur Folge haben.

VI.     Fazit

Regelmässig stellen Verkehrsunfälle für die Beteiligten eine Ausnahmesituation dar. Naturgemäss reagiert auf Ausnahmesituationen jede Person anders. Nichtsdestotrotz gilt es möglichst ruhig zu bleiben und die gesetzlich normierten Verhaltenspflichten einzuhalten, um unangenehme straf- und/oder zivilrechtliche Konsequenzen zu vermeiden. In zweiter Linie ist ein gesetzeskonformes Verhalten zudem geboten um versicherungstechnische Differenzen und Unstimmigkeiten von vornherein vorzubeugen.

Fussnoten

  1. SVG; SR 741.01.

  2. VRV, SR 741.11.

  3. BGE 105 IV 60, 62. E. 2. a).

  4. SSV, SR 741.21.

  5. Kommentar Strassenverkehrsgesetz und Ordnungsbussengesetz-Weissenberger, N 23 zu Art. 51 m.w.H. auf BGE 122 IV 356, 358 f., E. 3b.

  6. BGer 6B_479/2007 vom 15. Februar 2008, E. 5.2 m.w.H.BGer 6B_479/2007 vom 15. Februar 2008, E. 5.2 m.w.H.

  7. BGE 91 IV 22, 24, E. 2.

  8. BSK SVG-Unseld, N 79 zu Art. 51 m.w.H.

  9. A.a.O., N 82 zu Art. 51 m.w.H.

  10. A.a.O, N 77 zu Art. 51 m.w.H.

  11. Vgl. www.nbi-ngf.ch - Europäisches Unfallprotokoll.

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