Ausreichender Abstand im Strassenverkehr
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Strafrecht

Ausreichender Abstand im Strassenverkehr

Viele Automobilisten machen sich keine grossen Gedanken über den Abstand zum vorausfahrenden Fahrzeug und gehen davon aus, der Abstand reiche aus. Was sind die Konsequenzen, welche beim Unterschreiten des gebotenen Abstandes drohen?

Autofahrer Jostle Drengler[1] fährt am 2. August 2015 auf der Autobahn A1 von Solothurn nach Bern, um einen wichtigen Kundentermin wahrzunehmen. Kurz vor der Ausfahrt Schönbühl setzt er zum Überholen eines Lastwagens an und fährt dabei hinter Antonio Rallentare, welcher selbst den LKW mit seinem Lieferwagen am überholen ist.

Anfang November 2015 hält der überraschte Jostle einen eingeschriebenen Strafbefehl der Staatsanwaltschaft in den Händen, mit welchem er zu einer Geldstrafe verurteilt wird. Fast zeitgleich teilt ihm das Strassenverkehrs- und Schifffahrtsamt (SVSA) mit, dass es aufgrund einer polizeilichen Meldung ein Administrativverfahren eröffnete und gedenkt, den Führerausweis für eine befristete Dauer zu entziehen. Jostle weiss von nichts und fragt sich: Was ist passiert?

Aus dem Strafbefehl und dem Schreiben des SVSA geht hervor, dass Jostle Drengler den Vorwurf gemacht wird, am 2. August 2015 um 0905 Uhr auf dem Streckenabschnitt Kirchberg - Schönbühl der Autobahn A1 keinen ausreichenden Abstand eingehalten zu haben. Jostle ist über den ihm gemachten Vorwurf und den damit verbundenen Konsequenzen überrascht, hatte er doch den Eindruck, einen ausreichenden Abstand eingehalten zu haben. Die inzwischen vom mandatierten Anwalt eingeforderten amtlichen Akten, welche u.a. die Videoaufnahmen der Polizei enthalten, lassen jedoch leider keine Zweifel zu: Jostle Drengler hielt bei einer Geschwindigkeit von 110 km/h bloss einen Abstand von 12 m zum vorausfahrenden Antonio Rallentare ein.

Vielen Automobilisten ergeht es ähnlich wie Jostle Drengler: Sie machen sich keine grossen Gedanken über den Abstand zum vorausfahrenden Fahrzeug und gehen davon aus, der Abstand reiche aus. Viele wissen nicht, wie gross der korrekte Abstand sein müsste und sind sich der Konsequenzen, welche beim Unterschreiten des gebotenen Abstandes drohen, meist nicht bewusst.

Was bedeutet "ausreichender Abstand"?

Gemäss Art. 12 Abs. 1 VRV muss der Fahrzeugführer beim Hintereinanderfahren einen ausreichenden Abstand wahren, so dass er bei überraschendem Bremsen des voranfahrenden Fahrzeuges rechtzeitig halten kann. Der Begriff "ausreichender Abstand" ist gesetzlich nicht weiter definiert. Grundsätzlich helfen aber die folgenden zwei Faustregeln, um sicher zu gehen, dass ein ausreichender Abstand eingehalten wird:

Die Halber-Tacho-Regel besagt, dass die Distanz zum vorausfahrenden Auto mindestens dem halben Tachowert entsprechen muss (Bei der Geschwindigkeit von 110 km/h müsste Jostle Drengler demnach einen Abstand von mind. 55 m einhalten).

Weil es aber sehr schwierig ist, die Distanz in Meter richtig einzuschätzen, bewährt sich die 2-Sekunden-Regel: Man merkt sich die Position des vorausfahrenden Fahrzeuges und zählt "Einundzwanzig-Zweiundzwanzig". Hat man innerhalb dieser Zeit noch nicht die zuvor gemerkte Position erreicht, ist der Abstand eingehalten. Fuhr man bereits über die gemerkte Position hinaus, ist der Abstand zu gering. Wer die 2-Sekunden-Regel einmal ausprobiert, wird erstaunt sein, wie gross der Abstand sein sollte, wie falsch wir den Abstand einschätzen und wie oft wir den gebotenen Abstand unterschreiten.

Konsequenzen bei ungenügendem Abstand

Wie in den Artikeln im Juni 2015 und September 2015 dargelegt, muss bei einer Widerhandlung gegen das Strassenverkehrsgesetz (SVG) einerseits mit strafrechtlichen Konsequenzen (Busse, Geldstrafe oder Freiheitsstrafe) und anderseits mit Administrativmassnahmen (Verwarnung oder Führerausweisentzug) gerechnet werden. Die kantonalen Unterschiede bei der Beurteilung des Abstands und der Konsequenzen bei dessen Unterschreitung sind sehr unterschiedlich. Zu beachten ist, dass jeweils die Umstände des konkreten Einzelfalls berücksichtigt werden müssen. So spielen insbesondere das Verkehrsaufkommen, die Dauer der Unterschreitung des Abstandes sowie die Strassen-, Verkehrs- und Sichtverhältnisse eine wichtige Rolle. Die nachfolgenden Ausführungen geltend als Richtwerte bei günstigen Verhältnissen. Abweichende Beurteilungen durch die Behörden bleiben vorbehalten.

Strafrechtliche Konsequenzen

Das Strafrecht unterscheidet einfache Verkehrsregelverletzungen, welche mit einer Busse bedroht sind (Art. 90 Abs. 1 SVG) und grobe Verkehrsregelverletzungen, welche mit einer Geldstrafe resp. einer Freiheitsstrafe bedroht sind (Art. 90 Abs. 2 SVG).

Das Bundesgericht hat keine einheitlichen Regeln entwickelt, welche besagen würden, ab welchem Abstand eine einfache Verkehrsregelverletzung und ab welchem eine grobe Verkehrsregelverletzung anzunehmen ist. Das Bundesgericht bejahte aber eine grobe Verkehrsregelverletzung bei einem Abstand von unter 0.5 Sekunden in mehreren Fällen. Bei ungünstigen Verhältnissen geht das Bundesgericht jedoch davon aus, dass auch ein Abstand von 0.6 Sekunden die Voraussetzungen einer groben Verkehrsregelverletzung erfüllen kann. Das Bundesgericht ging beispielsweise in folgenden Fällen von einer groben Verkehrsregelverletzung aus: a) Abstand von fünf bis 10 Metern bei einer Geschwindigkeit von 80 km/h über 2 km; b) Abstand von 10 Metern bei >100 km/h während 800 Metern; c) Ein Polizist verfolgt bei einer Geschwindigkeit von 120 - 125 km/h ein Fahrzeug mit einem Abstand von <18 m; d) Abstand von 10-15 m während 1.3 km bei einer Geschwindigkeit von 90 km/h.

Grundsätzlich kann von folgender Tendenz ausgegangen werden[2]: Bei günstigen Verkehrsbedingungen liegt bei einem Abstand zwischen 0.6 Sekunden und 1.8 Sekunden eine einfache Verkehrsregelverletzung vor. Bei einem Abstand unter 0.5 / 0.6 Sekunden resp. 1/6 der gefahrenen Geschwindigkeit, wird grundsätzlich von einer groben Verkehrsregelverletzung ausgegangen.

Administrative Konsequenzen

Hinsichtlich der Administrativmassnahmen wird zwischen leichten, mittelschweren und schweren Widerhandlungen unterschieden. Nach einer einfachen Widerhandlung wird die fehlbare Person verwarnt (Art. 16a SVG). Nach einer mittelschweren Widerhandlung wird der Führerausweis für mindestens einen Monat (Art. 16b SVG), nach einer schweren Widerhandlung für mindestens drei Monate (Art. 16c SVG) entzogen. Für den Fall, dass der Ausweis in der Vergangenheit bereits einmal entzogen war oder eine andere Administrativmassnahme verfügt wurde, sieht das Strassenverkehrsgesetz eine erhöhte Mindestentzugsdauer vor.

Auch hier hat das Bundesgericht keine Regeln entwickelt, welche besagen würden, bei welchem Abstand ein Fall von Art. 16a, 16b oder aber 16c SVG vorliegt. Das Bundesgericht hielt aber fest, dass eine einfache Verkehrsregelverletzung i.S.v. Art. 90 Abs. 1 SVG sowohl den leichten wie auch den mittelschweren Fall abdeckt. Demgegenüber entspreche eine grobe Verkehrsregelverletzung i.S.v. Art. 90 Abs. 2 SVG einer schweren Widerhandlung.

 Grundsätzlich kann bei den Administrativmassnahmen von folgenden Richtwerten ausgegangen werden [3]: Bei günstigen Verkehrsbedingungen liegt bei einem Abstand zwischen 1.2 Sekunden und 1.8 Sekunden eine einfache Widerhandlung, bei Abständen zwischen 0.6 Sekunden und 1.2 Sekunden eine mittelschwere Widerhandlung und bei weniger als 0.6 Sekunden eine schwere Widerhandlung vor. Diese Richtwerte gelten nicht absolut. Es gibt beispielsweise ein Fall, in welchem das SVSA einen Abstand von 0.5 Sekunden bei einer Geschwindigkeit von 90 km/h noch als mittelschwer qualifizierte.

Fazit

Was bedeutet dies nun für Jostle Drengler? Bei der gefahrenen Geschwindigkeit von 110 km/h hätte Jostle einen Abstand von 55 m einhalten müssen. Weil grundsätzlich bei einem Abstand von unter 1/6 der gefahrenen Geschwindigkeit (hier 18.3 m) eine grobe Widerhandlung angenommen wird, Herr Drengler jedoch nur einen Abstand von 12 Metern einhielt, muss er mit einer Verurteilung zu einer Geldstrafe wegen grober Verkehrsregelverletzung und einem Führerausweisentzug von mindestens 3 Monaten wegen schwerer Widerhandlung rechnen.

Dieser Artikel wurde erstmals im Clubmagazin des ACS Sektion Bern Ausgabe 04/2015 veröffentlicht.

Fussnoten

  1. Sowohl Name wie auch der Sachverhalt sind frei erfunden.

  2. vgl. Weissenberger, Komm. SVG und OBG, Zürich/St. Gallen 2015, Art. 90 N 99.

  3. vgl. Weissenberger, Komm. SVG und OBG, Zürich/St. Gallen 2015, Art. 16c N 17.

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